Die Livetickerisierung unseres Lebens

CNN ist schuld. Und die anderen US-Nachrichtensender. Sie haben damit angefangen, uns mit Echtzeit zu maltärtieren, in Laufschrift am unteren Bildschirmrand. Unermüdlich kriechen die Infoschnipsel von rechts nach links über den Fernsehschirm. Selbst arabische Newssender wie Al Jazeera haben das übernommen (nur mit umgekehrter Laufrichtung von links nach rechts). Egal was sonst gerade läuft im Programm – 30 Sekunden zuschauen reicht, um informiert zu sein über den Krach in der Koalition, den Ärger im japanischen AKW und der Pole Position von Sebastian Vettel.
Falls man denn 2 1/2 Sätze zu einem komplexen Thema als „Information“ bezeichnen kann. Was auch immer zuerst da war – die sinkende Aufmerksamkeitsspanne oder die schrumpfende Nachrichtenläne – ich fürchte, mit dieser Livetickerisierung sinkt auch unsere Bereitschaft und Fähigkeit, komplexe Sachverhalte zu durchdenken. Die möglichen Folgen von Fukushima lassen sich kaum in 30 Sekunden Laufschrift kommunizieren. Mit der Livetickerisierung kommt unweigerlich die Veroberflächlichung der veröffentlichten Meinung. „Westerwelle tritt zurück“. „Rösler übernimmt Parteivorsitz“. „Merkel in Sorge“ – wer Themen so aufbereiten muss, dass man sie „auf den ersten Blick“ erfasst, der kann eben auch nur liefern, was man auf den ersten Blick sieht.
Wo das Fernsehen aufhören muss, weil kein Mensch mehr als zwei parallele Tickerbänder dauernd im Blick behalten kann, macht das Internet munter weiter. Die Wahrnehmungsgrenze, ab der uns Liveticker angeboten werden, verschiebt sich immer weiter in Richtung zunehmender Banalität. Liveticker zu Fukushima, Liveticker zu Libyen, Liveticker zur Landtagswahl in Baden-Württemberg. Was kommt als nächstes? Ich gehe jede Wette ein auf einen Liveticker zur Hochzeit von Prinz William und Kate Middleton. Oder wie wär’s mit einem Liveticker zu Dieter Bohlens aktuellem Liebesleben?
Früher waren Nachrichten das, wonach man sich richten konnte. Aber heute kann ich – Livetickerisierung sei Dank – Vorgänge in Echtzeit verfolgen, von denen ich bisher gar nicht wusste, dass sie mich überhaupt interessieren. Danach richten kann ich mich auch nicht – ich kann sie nur konsumieren, mit dem atemlosen aber guten Gefühl im Bauch, am Puls der Zeit zu sein und gerade noch so mitzukommen.
Es wäre ein spannender Selbstversuch, all die Liveticker unseres Lebens einmal anzuhalten, nur für einen Moment. Ich wette, wir würden dabei feststellen, dass die Erde sich weiterdreht, dass das eigene Leben weitergeht, und dass man nicht sterben kann an zu wenig Information.

0 Antwort
  1. Michael

    Ein weiterer Beitrag aus der Rubrik: „Endlich schreibt mal jemand was ich denke“
    Dankeschön, denn mit etwas Eigeninitiative bleibt man auch ohne Liveticker auf dem laufenden und ist darüberhinaus noch mit Hintergrundinfos versorgt.
    LG

  2. andy55

    „Man kann nicht sterben an zu wenig Informationen“ – cooler Satz.
    Der Rest des Posts auch…
    Mehr Kommentar ist nicht drin, muss den Liveticker verfolgen…

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