Zu viel Wikipedia, zu wenig Weisheit

Kennst du einen weisen Menschen? Nein, ich meine nicht unbedingt einen alten Menschen – obwohl Alter und Weisheit öfter zusammen gehen als Jugend und Weisheit. Ich meine einen weisen Menschen.
Kennst du jemanden, dessen Reden nicht durch Wissen glänzt, sondern durch Weisheit von innen leuchtet? Jemanden, der vor dem Reden vor allem zuhört, ausführlich und konzentriert, so als seist du der einzige andere Mensch auf diesem Planeten? Kennst du jemanden, der sagt „Ich weiß nicht genug darüber, um das zu beurteilen?“, anstatt zu allem und jedem gleich eine feste Überzeugung zu haben (und nächste Woche wieder eine andere)?
Wenn du so jemanden kennst, dann kennst du damit wahrscheinlich einen weisen Menschen. Weisheit ist etwas anderes, als viel zu wissen – es ist die Fähigkeit, Situationen zu lesen und hineinzusprechen und intuitiv Klarheit darüber zu gewinnen, was getan werden muss.
Weisheit ist das, was wir suchen, wenn wir endlich zugeben, dass wir mit unserem Latein am Ende sind. Weisheit ist das, was wir in einer Midlife-Beziehungskrise bei unserer siebzigjährigen Mutter suchen, nachdem wir uns ihr seit der Pubertät doch meilenweit überlegen gefühlt haben. Weisheit ist das, was übrig ist, wenn sich unser Wissensdurst der Jugend satt getrunken hat an allem Wissen der Welt – und doch auf entscheidende Fragen keine Antwort bekommen hat.
Weisheit ist keine selbstbewusste Herrschaft über  Fakten, sondern ein demütiges Empfangen. Wenn Wissen Macht, dann ist Weisheit die gelassene Gewissheit, in Freundschaft mit dem zu leben, dem selbst die Mächtigen Rechenschaft geben müssen. Und weil Weisheit Empfangen und nicht Festgalten ist, bedeutet Weisheit auch, immer wieder um Weisheit zu bitten.
Es war der alttestamentliche König Salomo, der reichste und wohlhabendste Mann seiner Zeit, den Gott einmal fragte, welchen Wunsch der Schöpfer des Himmels und der Erde ihm erfüllen solle. Salomo hat Gott um Weisheit gebeten. Der König wusste: Weisheit können wir uns nicht erarbeiten oder erkaufen – wir können, dürfen und müssen sie erbitten. Und Gott gibt sie gerne allen, die bereit sind, sich in einer Haltung des Beschenktwerdens auf seine Weisheit einzulassen.
Kennst du einen weisen Menschen? Wenn ja, hast du beim Blick auf unsere Gesellschaft und auf dein eigenes Leben vermutlich einen ähnlichen Eindruck wie ich: Wir haben zu viel Wikipedia und zu wenig Weisheit.
Wann fängst du an, darum zu bitten?

0 Antwort

Schreibe einen Kommentar