Die Bibel ist kein Sandalenfilm

Manche Bibeltexte scheinen direkt einem Sandalenfilm entnommen worden zu sein. Sie kennen vielleicht so kitschige Hollywoodschinken, in dem die Schauspieler für unsere heutige Ohren alle eine Spur zu pathetisch reden. Die Worte aus Rut 2,4 klingen zu nächst auch so. Sie beschreiben, wie der Landbesitzer Boas seine Felder in Augenschein nimmt und dabei seinen Arbeitern begegnet. Diese so genannten Schnitter arbeiten als Tagelöhner für ihren Chef Boas unter sengender Sonne in der Ernte. Chef und Arbeiter begrüßen sich gegenseitig – und das ganze klingt im Bibeltext dann so:
Boas sprach zu den Schnittern: Der HERR sei mit euch! Sie antworteten: Der HERR segne dich!
In meinem Inneren sehe ich da ein Bild vor mir wie aus einem Sandalenfilm. Auf einem staubigen Feld in einer wüstenähnlichen Landschaft vor mir arbeiten Männer in weiten Gewändern in der Ernte. Ihr Chef kommt vorbei – und sagt zu seinen Mitarbeitern: „Der Herr sei mit euch!“ Ist das nicht so richtig schön orientalisch und blumig, genau wie in einem Sandalenfilm? Und auch die Arbeiter reden mit ihrem Chef nicht so, wie wir heute reden würden. Sie sagen zu ihrem Chef nicht „Alles Gute!“, sondern eben „Der Herr segne dich“ – genau wie einem Sandalenfilm -.
„Der Herr sei mit euch!“, „Der Herr segne dich“- hinter solchen Sätzen steckt in Wahrheit viel mehr als orientalische Folklore aus dem Altertum. Die Bibel ist eben kein Sandalenfilm. „Der Herr sei mit euch!“, „Der Herr segne dich“- diese Sätze sind Wünsche, die das Gegenüber ausdrücklich mit Gottes Gegenwart und Gottes Segen in Verbindung bringen. Und die deshalb tief in die menschliche Seele und in die unsichtbare Welt Gottes um uns herum reichen.
Gehen Sie diesen Sätzen mit mir zusammen doch ein wenig auf den Grund.
„Der Herr sei mit euch!“- damit wünsche ich meinem Gegenüber Gottes Begleitung für seinen weiteren Weg. Diese Begleitung, dieses Mit-mir-sein Gottes ist keineswegs automatisch gegeben. Natürlich ist Gott überall, an jedem Ort – auch da wo Sie und ich uns jetzt gerade befinden. Gott ist da. Aber Gottes Mit-mir-sein, das ist noch ein bisschen mehr. Wenn Gott mit mir ist, dann wird seine Anwesenheit zur spürbaren Begleitung. Ich weiß nicht nur, dass Gott da ist so wie er überall da ist – nein, ich beginne damit zu rechnen und manchmal auch zu spüren, dass er da ist. Ich beginne meine Gefühle mit Gott zu teilen, Freude und Angst. Meine Sorgen ihm zu sagen und ihn um Kraft und Mut zu bitten für alles, was vor mir liegt. “Der Herr sei mit euch!“- das heißt einem Mitmenschen zu wünschen, so leben zu können.
Und auch der zweite Satz ist ein wirklich guter Wunsch: „Der Herr segne dich!“- damit wünsche ich meinem Gegenüber, dass Gott Gutes in seinem Leben bewirkt. Natürlich liebt Gott seine Menschen, auch mein Gegenüber, auch dann wenn ich ihm oder ihr nicht Gottes Segen wünsche. Aber Gottes Segen, das ist mehr als Gottes Menschenliebe. Mit dem Segen Gottes wünsche ich einem anderen Menschen, dass die Großzügigkeit und Menschenliebe Gottes in seinem Leben sichtbar wird und sich spürbar ausbreitet.
So betrachtet, sind diese beiden Sätze aus Rut 2,4 eigentlich außerordentlich gute Wünsche zwischen Chef und Mitarbeitern, zwischen Boas und seinen Schnittern. Vielleicht sollten wir diese Sätze einander öfter einmal sagen. – und dafür lieber mal ein „Passt auf euch auf“ oder ein „Alles Gute!“ weglassen.
In diesem Sinne möchte ihnen jetzt das wünschen, was Boas und seine Schnitter einander gewünscht haben: Der Herr sei mit euch! Der Herr segne dich!
(erschienen in der Sendereihe Wort zum Tag bei ERF Plus)

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