Wir haben die Ewigkeit verloren

Wir im Westen haben die Ewigkeit verloren.
Die Aufklärung hat unsere Welt um so vieles besser gemacht – und uns doch auf einen Pfad geführt, auf dem wir heute nur noch im Hier und Jetzt zu Hause sein können. Zu Hause sein müssen. Und das ist mittlerweile ein riesiges Problem.
„Ihr vertröstet die Massen doch nur auf’s Jenseits!“, wurde und wird der christlichen Kirche von den Kritikern bis heute vorgeworfen. Tatsächlich stand das Christentum im Lauf der Kirchengeschichte ständig im Spannungsfeld zwischen Einfluss und Weltflucht, zwischen Weltgestaltung und Weltüberwindung, zwischen Diesseits und Jenseits.
Und heute stellen wir fest: Wir haben die Ewigkeit verloren. Unsere westliche Gesellschaft hat keine Verheißung mehr übrig, die über sich selbst hinaus weist. Irgendwann ist jeder Konsumartikel eingekauft, jede postmoderne Selbstverwirklichung ausprobiert, jeder mediale Hype bei Facebook geteilt. Und dann stellen wir fest: Da ist nichts mehr. Da ist nicht viel mehr als ratlos und atemlos auf das nächste mediale Thema zu warten. Die nächste Krise. Den nächsten Terroranschlag.
Innen drin stellen wir fest, das uns das eigentlich nicht reicht – wenn wir es uns denn selbst eingestehen. „Da ist nicht mehr, und das reicht mir nicht“ – mit diesem Sentiment ziehen sich manche ins Private zurück, andere in de Zynismus – und wieder andere nach Syrien in den Krieg.
Der US-amerikanische Anthropologe Scott Atran, der in Paris forscht und sich intensiv mit IS-Kämpfern und -sympathisanten auseinander gesetzt hat, sagt dazu in einem Interview, das kürzlich bei Spiegel Online erschienen ist:

Der IS entfaltet seine Anziehungskraft weniger aus seiner Gewalt heraus als aus dem Ziel, eine andere Weltordnung herbeizuführen … Der IS ist eine freudvolle Bewegung. Er setzt unserer Lethargie eine Verheißung entgegen … Für viele, die Probleme haben, in ihrem Leben einen Sinn zu erkennen, ist der IS schlicht ein Abenteuer. Eine spannende Sache, die Ruhm und Anerkennung verspricht … Viele Menschen wollen auch gerne für etwas kämpfen. Wer sich einmal in den Pariser Banlieues mit Jugendlichen unterhalten hat, wird das bestätigen können. Viele von ihnen hadern mit ihrer Identität und ihrer Rolle … Sie sind auf der Suche nach etwas.

Atran ist weit davon entfernt, die menschenverachtende Gewalt des IS zu entschuldigen oder ein Pauschalrezept für die Terrorbekämpfung zu liefern. Was mich aber seit dem Lesen seines Interviews beschäftigt, ist die folgende Frage:
Freude, Verheißung, Sinn, Abenteuer, Ruhm, Anerkennung, für etwas kämpfen, Identität… – haben wir als Gesellschaft mit der Ewigkeit nicht noch viel mehr verloren als nur das Jenseits? Haben wir uns selbst unfähig dazu gemacht, allen diesen menschlichen Bedürfnissen ein echtes, ein positives Erfüllungsangebot gegenüber zu stellen? Ist nicht der christliche Glaube – recht verstanden und echt gelebt – genau so ein Angebot?
Wenn das so ist, dann hilft es niemandem weiter, wenn Christen ihre eigenen, echten, positiven Überzeugungen verstecken. Oder schlecht reden. Oder ihnen selber nicht vertrauen. Dann hilft es niemandem weiter, wenn christliche Kirchen und Gemeinden die Ewigkeit genauso verloren geben wie die restliche westliche Gesellschaft um sie herum. Dann hilft es niemandem weiter, wenn engagierte Atheisten „die Religion“ im Allgemeinen zur Wurzel allen Übels erklären.
Denn wenn wir ehrlich sind – es sind nicht nur die IS-Sympathisanten, die ohne Ewigkeit, Hoffnung und eine Verheißung auf Dauer nicht gut leben können.

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