Jesus und der Sehtest

Jesus ist echt lustig. Manchmal. Er packt tiefgehende Zusammenhänge in humorvolle Vergleiche. Und deckt damit unsere innersten Motive auf. Zum Beispiel in Lukas 6, 41+42:

Was siehst du aber den Splitter in deines Bruders Auge und den Balken in deinem Auge nimmst du nicht wahr? Wie kannst du sagen zu deinem Bruder: Halt still, Bruder, ich will den Splitter aus deinem Auge ziehen, und du siehst selbst nicht den Balken in deinem Auge? Du Heuchler…

Je bekannter eine Geschichte ist (so wie diese), desto schneller bin ich bei meinem Urteil, was Jesus meint. Desto fester bin ich davon überzeugt, dass ich ganz genau weiß was Jesus damit sagen will.
Ist doch klar, oder? Wenn du eine Schwäche im Leben eines Mitmenschen siehst, lass ihn in Ruhe. Deine eigene Schwäche ist viel größer. Er hat einen Splitter im Auge, du selbst einen Balken. Wofür hältst du dich, dass du ihn korrigieren willst – du bist selbst viel korrekturbedürftiger. Du Heuchler…
Aber Jesus ist noch nicht fertig. Der Text geht noch ein bisschen weiter – ein entscheidendes „Bisschen“:

… zieh zuerst den Balken aus deinem Auge und sieh dann zu, dass du den Splitter aus deines Bruders Auge ziehst!

Das Ziel der gegenseitiges Korrektur ist ein gutes, sagt Jesus! Du wirst nicht aus der Verantwortung entlassen, deinem Bruder weiterzuhelfen, sagt Jesus! „Sieh zu…“
Ja, ich bin eingeschränkt in meiner Sehfähigkeit. Ich kann meine eigenen Schwächen so wenig sehen – und deshalb auch die der anderen nicht überwinden helfen. Wie will ich jemandem einen Splitter aus dem Auge ziehen, wenn ich einen ganzen Balken im Auge habe und gar nicht richtig sehen kann?
Jesus bleibt hartnäckig, lässt nicht ab von seinem Ziel, dass sowohl Splitter als auch Balken entfernt werden. Aber anderen helfen kann nur der, der um seine eigene Hilfsbedürftigkeit weiß. Anderen in ihrer Schwäche begegnen kann nur der, der sich seinen eigenen Schwächen offen stellt. Und das ist das Ziel, das Jesus verfolgt. An mir, und durch mich an anderen.
Bleibt die Frage: Lasse ich diesen unbequemen Gedanken zu? Setze ich mich der Hartnäckigkeit von Jesus aus? Und lasse ich mich von Jesus ins Schicksal meines Bruders, mit allen Schwächen, seinen und meinen, verwickeln?
Damit wir beide – er und ich – richtig sehen lernen?

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