Leiterschaft ist Leidenschaft

„Ach, wenn doch die Politiker endlich mal…“ – „Ach, mein Chef müsste einfach mal…“ – „Ach, wenn die da oben in der Kirchenleitung doch mal… “ – wir alle haben schon einmal über schlechte Leiterschaft geklagt. Die meisten Deutschen, die ihren Job kündigen, tun das wegen ihres Chefs (über 80%). Im Beruf, in der Politik, in der Kirche – überall gibt es einen großen Bedarf an besseren Leitern und besserer Leiterschaft.
Üblichweise begegnen mir in Büchern, Blogs und auf Kongressen zwei Arten von Impulsen, die aus Leitern bessere Leiter machen sollen. Die erste Sorte Impuls nenne ich die „Motivation durch mehr„, und sie kommt vor allem in Appellform daher: Verwende mehr Zeit auf deine Aufgabe, mehr Energie, mehr Strategie, mehr Sorgfalt, mehr… – einfach mehr! Dieser Ansatz ist letztlich getrieben von der alten Putzfrauenweisheit „Viel hilft viel, und von nix kommt nix“ – aber er durchzieht einen zweistelligen Prozentsatz der Managementliteratur. Und da ist ja auch was dran: Mit mehr Mühe bekommt man meist auch mehr Ergebnis.
Den zweiten Ansatz möchte ich hier als „Intelligente Inspiration“ beschreiben. Er fordert nicht Quantität, sondern Qualität: „Work smarter, not harder!“. Meist gibt es irgendein „secret key“ oder ein „simple principle“, das zu beachten sei, und aus tagtäglichem Abmühen wird auf einmal ein intelligenter Flow. Priorisiere klug, wähle die richtigen Mitarbeiter aus, entlasse die falschen Mitarbeiter, manage deine Zeit gut, simplify your leadership.  Auch dieser Ansatz füllt unzählige Bücher über Leiterschaft. Und da ist ja auch was dran: Mit klügeren Entscheidungen und Weichenstellungen klappt’s meistens auch besser mit dem Chefsein.
Heute morgen bin ich in der Bibel auf einen ganz anderen Ansatz gestoßen. Einen Ansatz, zu dem ich noch nicht so viele Bücher gelesen habe. Ich möchte ihn mal als „Leiterschaft mit Leidenschaft“ bezeichnen, und wir finden ihn im Neuen Testament, Apostelgeschichte 20. Es wird beschrieben, wie der erfahrene langjährige Leiter und Apostel Paulus sich  ein letztes Mal mit den Führungskräften der von ihm gegründeten Gemeinde in Ephesus trifft. Sie reden über viele Themen, aber eigentlich läuft es auf eine Art Rechenschaftsbericht hinaus. Ein Debriefing, eine letzte Chance, sich auszusprechen, bevor Paulus in eine ungewisse Zukunft aufbricht und sie sehr wahrscheinlich nie wiedersehen wird.
Alles Wichtige kommt in diesem Gespräch noch einmal auf den Tisch. Auch Paulus‘ Verständnis seines Dienstes und seine Leitungsphilosphie. Er selbst formuliert das so (Apg 20,18-19):

Ihr wisst, wie ich mich vom ersten Tag an, als ich in die Provinz Asien gekommen bin, die ganze Zeit bei euch verhalten habe, wie ich dem Herrn gedient habe in aller Demut und mit Tränen und unter Anfechtungen…

Ich lese von einem konsistenten, nachhaltigen, berechenbaren Verhalten bei Paulus („vom ersten Tag an… die ganze Zeit“). Paulus war nicht durch eine „Motivation des mehr“ getrieben. Und auch nicht von einer „Intelligenten Inspiration“ durchdrungen. Paulus war vielmehr geprägt von einer leidenschaftlichen Nähe zu den Menschen in Ephesus und ihren Herausforderungen: „dem Herrn gedient… in Demut… mit Tränen… unter Anfechtungen“.
Im Einzelnen bedeutet das für mich:
in Demut: sich auseinandersetzen mit den eigenen Schwächen, zugeben dass man nicht alles im Griff hat, angewiesen ist auf Hilfe von oben und auf Ergänzung durch andere.
mit Tränen: den Menschen und ihre Situation ganz nahe an sich heranlassen. So nahe, dass die eigenen Emotionen angestoßen werden. Keine Angst vor Kontrollverlust, Chaos und Durcheinander. Ganz da sein.
unter Anfechtungen: die Konflikte riskieren, die notwendig sind. Nicht Streit suchen, um Streit zu gewinnen – aber für das aufstehen und stehenbleiben, wofür man da ist. Auch wenn man nicht mehr everybody’s darling ist.
Welches Buch hast du zuletzt über Leiterschaft gelesen? Welchen Podcast gehört? Welchen Kongress besucht? Was hast du mitgenommen – die „Motivation durch „mehr“? Die „Intelligente Inspiration“? Ich wünsche unseren Büchern, Podcasts, Kongressen und auch mir selbst, dass wir mehr von dem reden, was Paulus ausgezeichnet hat. Von „Demut“, „Tränen“ und „Anfechtungen“. Von einem Dienst mit Leidenschaft.
Leidenschaft investiert sich in Menschen und um Menschen willen. Auch dann, wenn es Demut verlangt, Tränen mit sich bringt und in Anfechtungen führt. Denn gute Leiterschaft ist Leidenschaft.

0 Antwort
  1. Ich habe die Tage auch die Predigt von Nancy Beach gehört, die u.a. über diese Stelle
    gepredigt hat . Meine Gedanken dazu: ja – authentisch sein als Leitung, echt durch und durch, das ist es! Nähe zulassen und leben.
    Wir sehr wünsche ich das allen die in der Verantwortung stehen … und natürlich immer auch mir selbst!
    Monika

  2. Rainer

    pixelpastor, vielleicht kannst du Leuten, die nicht aus Freikirchen kommen, das System „Willow Creek“ auch mit seiner Umsetzung in Deutschland noch einmal erklären. Freue mich jedenfalls, dass es da wie bei Nancy Beach auch lehrende Frauen gibt, die zudem noch charmant und sehr modern wirken.

  3. Rainer

    Ich auch nicht, aber ich lese viele schlaue Bücher, auch zu theologischen Themen. Mich interessieren Entwicklungen in der Kirche, und ich verliere hier ja schon die Übersicht. Frage mich natürlich auch, warum es in Deutschland so wenige geistliche Vordenker gibt und man sich immer alles über den großen Teich herholen muss.

  4. Leiten und nur ja keine Fehler machen, dass ist ein Ding der Unmöglichkeit – für uns. Gott leitet diese ganze Welt und macht als einziger keine Fehler. Er leitet die Frommen und auch die, die ihn nicht wollen.
    Du beginnst Deinen Post mit Gedanken, die nicht nur in der frommen Welt zu Hause sind. Und weiter unten verwendest Du Paulus in seiner Position als Leiter. So wie er Leiterschaft sieht. Keine Frage, für die Gemeindeleitung passt dass, was Paulus sagt. Doch damit wird man die anderen Bereiche wie Politik und Wirtschaft nicht mit abdecken können. Selbst dann nicht, wenn der Leiter ein frommer Bruder ist.
    Ich kenne mehr als einen Bruder, der in leitender Position sitzt. Und ich stelle oft fest, dass ihnen ihre Frömmigkeit eher selten anzumerken ist. Christen in leitenden Funktionen in der Wirtschaft sind auch nur Menschen. Sie haben es doppelt schwer, obwohl sie es einfach leichter haben sollten. Auf der eine Seite steht der „Druck des Unternehmens“ versus „Glaube im Alltag“. Die praktische Anwendung ist sicher das Ziel, aber leider viel zu oft in weiter Ferne.
    Paulus sprach für die Gemeinde. Leiterschaft ist in der Gemeinde, wie im Beruf eine Sache der Authentizität. „Echt sein“, damit man ernst genommen werden kann, ist eine Grundvoraussetzung für Leiter. Natürlich im Sinne von Paulus im Bezug auf die Gemeinde.
    Die Authentizität ist auch im Beruf entscheidend, um als Autorität anerkannt und akzeptiert zu werden. Wir akzeptieren keine Personen über uns, von denen wir den Eindruck haben, sie sind nur Fahnen im Wind. Wir tolerieren und ertragen sie zähneknirschend.
    Christen haben einen Gott, mit dem man über Mauern springen kann. Das ist nur ein Aspekt von vielen, dessen wir uns bewusst werden müssen, wenn wir andere Menschen führen. Nicht wir als Menschen sollen einsam die Entscheidungen treffen und bestimmen, was wer wann wo mit wem zu tun oder zu lassen hat, sondern aus der Beziehung zu Gott heraus. Wir werden diese Leiterschaften mit Leichtigkeit ausführen, wenn wir nur nah genug in der Gegenwart Gottes aufhalten. Authentisch sind, indem wir zeigen, dass gerade Christen Menschen sind, denen man vertrauen kann, weil wir das Gute für unsere Mitmenschen wollen.
    Ich schreibe es nur deshalb etwas ausführlicher, weil ich möchte, dass die Aussagen des Paulus richtig eingeordnet werden. Eine Gemeindeleiterschaft ist nicht das gleiche wie ein leitende Position in Politik oder Wirtschaft.

  5. Nachbarin

    Das ist ein sehr guter Artikel.
    Und so zu leiten kostet viel Kraft – Kraft, die immer nur aus der ganz engen Beziehung zum dienenden König Jesus Christus kommen kann. ER war der Prototyp des demütigen, angefochtenen und mitleidenden Leiters.
    Wer es hin und wieder schafft, so dienend zu leiten, hat mehr bekommen und mehr gegeben als 1000 kluge Worte sagen können.

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