Meister des Timings

Wer länger als 30 Sekunden in irgendeiner Form kirchlicher Kinderbetreuung zugebracht hat, ist ihr so sicher begegnet wie den Erwachsenen das Amen im Gottesdienst : Der Geschichte von Josua und Jericho (nachzulesen im Alten Testament in Josua 6). Wer einmal gehört hat, auf welche skurrile Art und Weise das Volk Israel die alte, uneinnehmbar befestigte Stadt am Jordanufer eingenommen hat, kann es nicht mehr vergessen: Auf persönliche Anweisung ihres Gottes und unter dem Kommando von Josua zieht die Armee Israels sieben Tage hintereinander je einmal außen um die Stadtmauern herum. Immer im Schlepptau posauneblasende Priester mit der „Bundeslade“ – einem Holzkasten als Zeichen der besonderen Gegenwart Gottes unter seinem Volk. Wer in der Fußgängerzone einer deutschen Großstadt wohnt,mag schon viele seltsame Umzüge gesehen haben – dieser hier legt noch mal eine Schippe Seltsamkeit drauf.
Es ist im Zusammenhang mit Josua und Jericho schon viel spekuliert worden über den Aspekt der psychologischen Kriegsführung. Manche meinen, dem Volk Israels sei ein gewisser Ruf vorausgeeilt („das sind die, deren Gott gerade letzte Woche den Jordan gestaut hat, damit sie keine nassen Füße bei der Überquerung bekommen“). Von Stadtumrundung zu Stadtumrundung sollen die Einwohner Jerichos angespannter, eingeschüchterter, angsterfüllter gewesen sein. Ich habe an der Version von der pyschologischen Kriegführung so meine Zweifel: Muss man hinter dicken Stadtmauern wirklich zitternde Knie bekommen, nur weil draußen ein seltsames Nomadenvolk mit Holzkasten und Posaunen die Umgehungsstraße testet?
Da finde ich es viel eindrücklicher, mich in die Situation eines einfachen Israeliten hineinzuversetzen: Josua, gerade frisch zum neuen Anführer von Israel berufen, gibt die eigenartige Taktik aus. Und nicht nur das – er behauptet steif und fest, Gott selbst habe ihm die Details dazu geliefert. Einfach sechs Tage lang schweigend mit Posaune und Bundeslade um die Stadt ziehen, am siebten Tag Posaune blasen und Kriegsgeschrei anstimmen – und Jericho ist geliefert. „Stadt umrunden?“, so fragt sich der einfache Israelit, „was soll das bringen?“. Aber nun gut, es sind Josuas erste 100 Tage im Amt, da lässt man es vielleicht mal auf einen Versuch ankommen.
Am ersten Tag passiert nichts. Die Mauer fällt nicht, die Stadt bleibt uneingenommen, der Sieg lässt auf sich warten.
Am zweiten Tag passiert nichts. Die Mauer fällt nicht, die Stadt bleibt uneingenommen, der Sieg lässt auf sich warten.
Am dritten Tag…
Langsam wird unser Israelit ungeduldig. Warum versuchen wir das immer wieder, wenn es doch nicht klappt? Haben die da oben (gemeint ist vermutlich Josua) immer noch nicht verstanden, dass Mauern nicht umfallen nur weil man sie mit Posaunen und einem Holzkasten umrundet?
Am vierten Tag passiert nichts. Die Mauer fällt nicht, die Stadt bleibt uneingenommen, der Sieg lässt auf sich warten.
Am fünften Tag passiert nichts. Die Mauer fällt nicht, die Stadt bleibt uneingenommen, der Sieg lässt auf sich warten.
Am sechsten Tag…
Immer noch nichts. Inzwischen fühlt sich unser Israelit verwirrt. Verärgert. Vorgeführt. Wie lange soll das noch so gehen? Hat Gott nicht glasklar versprochen, dass er Israel den Sieg über Jericho schenken würde? Dass sie durch seine göttliche Hilfe die Mauern überwinden würden? Warum dauert es dann so lange? Warum müht man sich dann mit solch lächerlichen Methoden ab?
Am siebten Tag…

…gingen die Israeliten bei Tagesanbruch los und umrundeten die Stadt auf dieselbe Art sieben Mal. Nur an diesem Tag gingen sie sieben Mal um die Stadt herum. Während der siebten Umrundung, als die Priester ins Horn bliesen, befahl Josua dem Volk: Schreit! Denn der Herr hat die Stadt in eure Hand gegeben! […] Als die Israeliten das hörten, schrieen sie so laut sie konnten. Da stürzten die Mauern Jerichos zusammen, und die Israeliten drangen geradewegs in die Stadt ein und eroberten sie. (Josua 6, 15-20)

Na also, geht doch. Hätten sie das nicht gleich so machen können?
Ich glaube nicht. Wenn ich diese Geschichte ernst nehme (und viele andere im Alten und Neuen Testament auch), komme ich zum Schluß, dass Gott ein Meister des Timings ist. Oft dauert es aus Menschensicht betrachtet lange. Manchmal unerträglich lange. Aber Gott hat Josua nicht zufällig detaillierte Anweisungen für die Eroberung Jerichos gegeben. Josua hat diese Anweisungen nicht zufällig 1:1 befolgt. Unser Israelit mag seine Zweifel an der Sinnhaftigkeit gehabt haben – aber er ist nicht zufällig in die befestigte Stadt eingedrungen. Sondern weil Gott ihm und dem ganzen Volk den Sieg geschenkt hat. Auf seine Art. Und zu seinem Zeitpunkt. Ihm ist nicht nur das „Was“ wichtig. Sondern auch das „Wie“ und das „Wann“.
Gott ein Meister des Timings. Vertraue ich ihm nicht nur das „Was“, sondern auch das „Wann“ meiner Lebensumstände an?

0 Antwort
  1. Wolfgang

    Hier passe meines Erachtens auch sehr gut das Bild vom „Säen und ernten“. Da geht es auch um den richtigen Zeitpunkt. Denn ich kann nicht überall und immer säen und folgerichtig nicht überall und immer ernten.
    Der Sprüchemensch würde sagen: „Alles hat seine Zeit“
    🙂
    Für mich in einer Umgebung der „Gleichzeitigkeit“ und „Jetzt sofort“ Mentalität passt das gar nicht…

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