Anatomie einer Krise

„Hat Gott vergessen, gnädig zu sein?“

Ein schlichter Satz, eine direkte Frage aus Psalm 77,10. Direkt aus dem Abgrund der Seele – dahinter steht eine tiefe Glaubenskrise.
Asaf, der uns den 77. Psalm hinterlassen hat, beginnt dort, wo schon viele Menschen vor und nach ihm in die Krise getrudelt sind: „Ich schreie zu Gott und rufe um Hilfe“ (Vers 2). Immerhin schon mal die richtige Adresse, möchte man ihm ermutigend versichern – aber alle Ermutigung, aller Zuspruch, alle Glaubensgewissheiten greifen nicht: „Meine Seele will sich nicht trösten lassen“ (Vers 3). Kennen Sie das? Waren Sie schon mal an dem Punkt, wo alle frommen Wünsche von außen und alle Erlebnisse von innen nicht trösten können?
Ruhelos beginnt Asafs Geist zu wandern (Vers 7), auf der Suche nach einem Halt, einem Ankerpunkt, an dem sich sein Glaube festhalten kann. Wie kann das sein, dass es ihm so schlecht geht? „Ist’s denn ganz und gar aus mit [Gottes] Güte?“ (Vers 9). Irgendetwas stimmt nicht – entweder mit Asaf oder mit Gott – hat sein Gott ihn tatsächlich vergessen?
Der Leidensdruck erreicht den Höhepunkt, und Asaf erscheint nur noch eine Schlussfolgerung möglich: „Darunter leide ich, dass die rechte Hand des Höchsten sich so ändern kann“ (Vers 11). Immerhin – er leidet darunter. Er lässt die Spannung zu – zwischen seinem Gottesbild und seinen Erfahrungen. Wer von uns ist so mutig? Wie viele von uns versuchen nach außen einen starken Glauben zu bewahren – und in Wirklichkeit ist es nicht mehr als eine zerbrechliche Hülle? Leiden wir wenigstens noch an Gott in den Situationen, in denen wir ihn so gar nicht verstehen können?
Die Wende kommt für Asaf mit dem Wechsel des Blickpunkts: „Ich denke an Deine früheren Wunder […] Gott, dein Weg ist heilig“ (Vers 14). Asaf entscheidet sich dafür, dass seine Situation nicht definiert, wie Gott wirklich ist. Gott ist treu – und deshalb kann sein Leid nicht Endstation sein, so aussichtslos die Lage auch scheinen mag. Asaf gibt es auf, von Gott in erster Linie die Linderung seiner Not zu erwarten – und begegnet Gottes Treue und Herrlichkeit und Allmacht.
Wie oft suche ich zuerst die Lösung meiner Probleme, die Linderung des Leids, Hilfe in meinen Schwächen. Gott dagegen sucht die persönliche Begegnung mit seinen Menschen – auch in der Tiefe des Leids. In den großen Krisen des Lebens lässt sich diese Erkenntnis nur mühsam und nur für einen selber ganz persönlich gewinnen. Aber vielleicht lässt sich in den ganz normalen Schwierigkeiten des Alltags einüben: nicht zuerst die Lösung suchen, sondern den Löser – ganz egal was danach passiert.
Nicht gerade das, was Asaf am Anfang erwartet hatte. Aber es konnte seine Seele am Ende wirklich trösten. Und das ist nicht wenig.

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