Aufbruch heißt Aufbrechen

Wie oft wünschen wir uns einen Aufbruch – in einem Team, einem Projekt, einer Organisation oder in einem Dienstbereich in der Gemeinde? Dass sich die Dinge endlich mal deutlich sichtbar nach vorne entwickeln, dass man auf eine „neue Ebene kommt“, dass ein neues „Kapitel beginnt“? Es viele Gründe für Stagnation, und einen der wichtigsten übersehen wir meistens (übrigens nicht nur die Leute in dem Team, dem Projekt oder dem Dienstbereich selbst – sondern nicht selten auch die Leitungsverantwortlichen): Was dem Aufbruch im Weg steht, ist ironischerweie die erfolgreiche Vergangenheit. Denn Aufbrechen kommt von Aufbrechen – und das bedeutet nicht selten auch Auf-Brechen.
Was muss denn für einen Aufbruch aufgebrochen werden? Nehmen wir – frei gewähltes Beispiel – einen Hauskreis für junge Erwachsene, der in einer etwas überalterten Kirchengemeinde entsteht:
Ein junges Ehepaar, gerade mit der Ausbildung fertig, schließt sich der Gemeinde an. Weil es nur wenige Gemeindemitglieder in ihrem Alter gibt und daher kaum Angebote, die auf sie und ihre Lebenssituation zugeschnitten sind, entschließen sie sich, „was zu machen“. Sie beginnen sie einen Hauskreis für junge Erwachsene, um sich wöchentlich mit Gleichaltrigen und Gleichgesinnten zu treffen und Glaubensfragen zu diskutieren. Das Presbyterium hat keine Einwände; sind sie doch vor allem mit dem Hautgeschäft der Kirchengemeinde ausgelastet, das sich vor allem um die ältere Generation dreht. Der Pfarrer hat auch keine Einwände; er freut sich dass außer ihm endlich auch mal andere versuchen, „neuen Schwung reinzubringen“ – und neue, jüngere Leute. So nimmt die Geschichte ihren Lauf; der Hauskreis startet, und das fitte junge Ehepaar sammelt in kurzer Zeit einige Mitstreiter um sich, die ihre Vision teilen – und ihr Bedürfnis. In den zwei Jahren gewinnen diese Leute ein ganz neues Gefühl von Heimat in der Gemeinde, etwas das sie in der großen, deutlich älteren Gruppe nie so richtig gefunden haben. Man versteht sich, man bringt das gemeinsame Projekt voran, man verteidigt es gegen den einen oder anderen Kritiker von außen, der nicht versteht, warum „diesen jungen Leuten“ der monatliche Kirchenkaffee nicht reicht. Das gemeinsame Anliegen verbindet, schafft Heimat, verleiht Identität.
Nach zwei Jahren wachsen bei dem jungen Ehepaar Unzufriedenheit und Müdigkeit. Sie suchen das Gespräch mit dem Pfarrer, der ihnen zunächst Mut macht, weiterzumachen. Er sagt ihnen, wie wichtig ihr Engagement für die Gemeinde ist – und doch leiden sie zunehmend darunter, dass schon länger keine neuen Leute mehr zu dem Hauskreis hinzugekommen sind, dass die Bedeutung der jungen Erwachsenen in der Gesamtgemeinde nicht gewachsen ist, dass sie und ihre Vision bei Entscheidungen im Presbyterium immer noch nicht wirklich eine Rolle spielen. Daraufhin entscheidet sich der Pfarrer, das in seinem Presbyterium bewusst zum Thema zu machen. Er lädt das junge Ehepaar ein, dort ihre Gruppe und ihre Pläne einmal vorzustellen und fordert das Presbyterium heraus, sich aktiv in die weiteren Planungen einzuschalten. Welche Leute kennen wir noch, die wir in so eine Gruppe einladen können? Wie könnte eine Werbekampagne in unserem Stadtteil aussehen? Wer könnte aus dem Presbyterium regelmäßig am Hauskreis der jungen Erwachsenen dabei sein um mitzubekommen, wie es dort vorangeht?
An dieser Stelle nun passiert etwas eigenartiges: Das junge Ehepaar schreckt innerlich davor zurück, sich auf diesen Weg einzulassen. „Wer weiß, welche Leute die uns schicken“, so sagen sie. „Die wissen doch gar nicht wirklich, worauf es bei so einem Hauskreis ankommt“, so sagen sie. „Wollen wir wirklich, dass die im Presbyterium plötzlich Entscheidungen treffen, die wir bisher doch gut alleine treffen konnten?“ Plötzlich scheint „ihr“ Projekt in Gefahr, ihre Heimat, ihre Identität. Plötzlich mischen Leute mit, die bisher nicht Teil der Gruppe waren. Plötzlich scheint vieles von dem in Frage gestellt, was sie bisher doch gerne und gut alleine hinbekommen haben.
Nur ein rein fiktives Beispiel – aber ich kenne viele andere, aus beruflichem wie aus Gemeindeumfeld. Und immer läuft es ähnlich ab: Zuerst initiiert jemand ein neues Projekt. Er setzt sich überdurchschnittlich dafür ein, schart Verbündete um sich, meistert viele Startschwierigkeiten, steckt Kritik von außen ein. Es entsteht eine kleine „Kampfgemeinschaft“ aus Leuten, denen das Projekt Heimat und Identität gibt. Das Projekt gewinnt eine gewisse Größe und stagniert dann. Allen eigenen Anstrengungen zum Trotz geht es irgendwie nicht wirklich weiter voran. Die Sehnsucht nach einem Aufbruch ist groß – aber an diesem Punkt setzt Aufbruch auch unweigerlich ein Auf-Brechen voraus. Ein Aufbrechen des Vertrauten, des Heimatgefühls, der Identität. Auch ein Aufbrechen der Kontrolle in Händen der Projektverantwortlichen. Wer mehr Ausdehnung sucht, kann nicht auf Dauer eine Insel bleiben, sondern muss sich als Teil von etwas Größerem verstehen lernen. Aber die Brücken zwischen Insel und Festland sind keine Einbahnstraße – mehr Ausdehnung, Ressourcen und Wachstum heißt immer auch mehr Mitsprache, Hinterfragen und Kontrollverlust. Andernfalls steht der Erfolg der Vergangenheit – und seine Mütter und Väter – einem neuen Aufbruch letztlich im Weg.
Das ist für jemanden, der ein Projekt gestartet und durch die erste Zeit großgezogen hat, oft sehr schwer zu akzeptieren. Nur wenige Projektverantwortliche schaffen diesen Mind-Shift aus eigener Einsicht und eigener Kraft. Deshalb macht an dieser Stelle eine gute Leitung oft den entscheidenden Unterschied zwischen Stagnation und Aufbruch aus: Schlechte Leitung beschränkt sich darauf, die Projektverantwortlichen „bei Laune zu halten“ und zu deren Bedingungen zu unterstützen, so gut es geht. Damit wird aber meist nur die Stagnation auf längere Sicht zementiert. Gute Leitungsverantwortliche wie der Pfarrer im Beispiel dagegen trauen sich, das Projekt an dieser Stelle aufzubrechen und die Projektverantwortlichkeiten mit den erforderlichen Veränderungen zu konfrontieren. Und sie notfalls sogar zu bitten, aus dem Projekt auszusteigen, damit das Projekt weiter wachsen kann und sich die ursprüngliche Vision der Projektverantworlichen verwirklicht. Das klingt zunächst völlig paradox und gehört mit zu schwersten Entscheidungen, die man in einer Leitungsverantwortung treffen muss.
Aber manchmal steht der Zukunft der Erfolg der Vergangenheit im Weg. Und dann heißt Aufbruch eben auch Auf-Brechen.

0 Antwort
  1. Hannes

    Es ist im Beispiel, ein glückliches Ehepaar, welches sich christlich engagieren will und eine neue Instanz und Möglichkeit zum Austausch innergemeindlich schaffen will und dabei an Wachstumsgrenzen stößt. Es geht um Wachstumsgrenzen in Kleingruppen und um die Durchbrechung von unsinnigen, zu kurzgedachten Begrenzungen. Tja, was würde J. sagen?
    Ablehnung gehört zum Geschäft? Es allen recht tun ist eine Kunst, die niemand kann? Lieber, wie Mutter Theresa sagte, einen satt machen als niemanden? Beten? Noch mal beten? Sich wie in der Bibel steht an die niedrigen Dinge halten und keine Gruppe ‚aufziehen wollen‘ aus ‚Eitelkeit‘ und um ‚Bedeutsam‘ erhaschen zu wollen?!
    Wo ist der Kern, die Wurzel des Problems, hier?
    Wenn ein bestimmtes Größenwachstum nicht überschritten wird? Demut, den richtigen 1-2 Leuten geholfen zu haben… Nein! Oder doch, oder evtl. dies: Johannes Kap. 15 beherzigen… dann wirkt jemand (J.) durch uns, ob viele oder wenige Zuhörer. Gott geht es um den Einzelnen, von Mensch zu Mensch, von bewältigter Not eines Menschen zu helfen eines Anderen in Not.

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