Der nackte Chef

In Sachen Leitungskultur steckt unsere Gesellschaft mitten in einem Generationswandel. Ausnahmen mögen die Regel bestätigen, die da lautet: Früher waren Chefs abgeklärt, autoritär, distanziert, verschlossen und definitiv kein Kumpel. Einzelexemplare dieses Leitertyps sterben irgendwie nie aus, sehr wohl aber eine Leitergeneration die als ganzes dieses Ideal gelernt und oft auch verkörpert hat.
Heute – willkommen, Postmodere! – ist das Pendel in die entgegen gesetzte Richtung umgeschlagen. Ob Abteilungsleiter, Jungunternehmer oder Pastor – Leiter sollen und wollen ihren gegen Mitarbeitern immer stärker möglichst offen, authentisch und transparent begegnen.
Stellt sich die Frage: Was ist das richtige Maß? Wie nackt sollte der Chef denn sein?
Wie bei allen kulturellen oder gesellschaftlichen Pendelumschlägen scheint mir, dass die beste Lösung nicht im Extrem liegt, weder im vergangenen noch im zukünftigen. Ich glaube, es gibt für Leiter ein zu offenes, authentisches und transparentes Verhalten, das Mitarbeiter letztlich überfordert und mit den Emotionen, Fragen und Zweifeln des Leiters alleine lässt.
Der kanadische Pastor und Autor Carey Nieuwhof beschreibt in seinem Blog aus seiner persönlichen Geschichte heraus zwei Faustregeln, die einem Leiter helfen können, ein gutes Maß an Authentizität und Transparenz zu finden. Ein Maß, das Mitarbeitern konstruktiv hilft anstatt sie zu überfordern:

  1. Bearbeite deine Probleme privat, nicht öffentlich. Führungsverantwortung beschert einsame Momente, und es ist wichtig und richtig, mit anderen über Unsicherheit, Kämpfe und Selbstzweifel sprechen zu können. Aber diese „anderen“ sind ein privates, persönliches Netzwerk – nicht die eigenen Mitarbeiter. Das Ringen mit einer Situation und mit sich selbst gehört nicht auf die Bühne. Erst wenn du dir klar darüber bist, wie du mit einem bestimmten Thema umgehen wirst, ist der Moment gekommen, Mitarbeitern Anteil zu geben. Ohne Fassade und ohne Show, authentisch und transparent. Aber mit einem klaren Weg vor Augen – und ein bisschen auch schon unter den Füßen.
  2. Dein Mitteilen soll dem Mitarbeiter helfen – nicht dir. Authentizität und Transparenz sind keine psychologischen Selbsthilfe-Disziplinen für den Leiter, und Mitarbeiter haben nicht die Aufgabe, ihren Chef zu trösten. Wer sich nackt zeigt, damit die anderen ihn bemitleiden und ihre Kleider spenden, dient nicht seinen Mitarbeitern, sondern höchstens der eigenen Befindlichkeit. Das Eingestehen von Schwäche baut Brücken, erleichtert Empathie und stiftet Identifikation – aber öffentliche Schwäche ist kein Mittel, um die tieferen Herausforderungen der eigenen Situation zu bearbeiten.

Ich finde die zwei Punkte sehr nachvollziehbar und praktisch handhabbar. Wie viel Authentizität und Transparenz hältst du – als Mitarbeiter oder als Chef – für angemessen?

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  1. Ich finde die beiden Punkte auch sehr nachvollziehbar. Mir hat sich die Frage gestellt, inwieweit man denn einem bestimmten Personenkreis überhaupt „nackt“ ist. Es gibt ja Dinge, die ich etwa auch nicht in meinem gesamten Freundeskreis ausbreite, sondern nur ausgewählten Personen. Chefs (bzw. Mitarbeiter) sollten zwar für eine angenehme Atmosphäre sorgen – aber das geht ja auch mit einem gewissen Maß an Distanz.
    Mir ist spontan das Feature von Google+ eingefallen, wo man verschiedene Kontakte in „Kreise“ einsortieren kann. Ganz ähnlich sollte man sich das, glaube ich, im „real life“ auch vorstellen. Und sich überlegen, was man mit welchen „Kreisen“ teilt…

  2. Staimer

    Also doch: abgeklärt, autoritär, distanziert, verschlossen und definitiv kein Kumpel.
    Das find ich gutt! Alles andere is anbiedern. Die Untergebenen solln wissen, wo der Hammer hänkt.

  3. Danke für den Beitrag. Grundsätzlich glaube ich auch, dass Authentizität und „Nacktheit“ in unserer Zeit enorm vertrauensbildend wirken (Vgl. auch Patrich Lencionis spannendes Buch „Getting nacked“). Die beiden „Einschränkungen“ leuchten mir aber ein.

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