Social Media: Zwischen Agitation und Basisdemokratie

Vor einigen Tagen erschien im Cicero online ein Artikel von Bernhard Pörksen über die soziale Netzwerke als die „fünfte Gewalt des digitalen Zeitalters“. Pörksens Kernthese: Durch das Internet – vom mittlerweile veraltet wirkenden „Web 2.0“ bis zu den heutigen sozialen Netzwerken Facebook, Twitter, Instagram & Co. – ist in der Öffentlichkeit unserer Gesellschaft eine „fünfte Gewalt“ entstanden, nach Parlament, Regierung, Justiz und Medien.
Diese Betrachtung finde ich in vierfacher Weise interessant:

  1. Pörksen unterscheidet zwischen klassischen Massenmedien (Radio, Zeitung, Fernsehen – die vierte Gewalt) und sozialen Netzwerken. Nicht, weil sie aus einem digitalen Zeitalter heraus entstanden sind und entstehen, sondern weil ihre Wirkmechanismen auf die Öffentlichkeit so anders funktionieren. Wo es in Sendern und Zeitungsredaktionen in den Intendanten und Chefredakteuren klare Akteure und Ansprechpartner der öffentlichen Meinungsbildung gibt, entfaltet die „fünfte Gewalt“ ihre Macht aus der Verletztheit der Vielen heraus. Auch deshalb finde ich die Bezeichnung „neue Medien“ für soziale Netzwerke nicht nur als hilfreich, verdeckt er doch grundlegend andere – neue – Funktionsweisen im Vergleich zu früheren „neuen Medien“.
  2. Diese fünfte Gewalt ist genauso anfechtbar, angreifbar, manipulierbar, wie es Menschen eben sind. Es ist wichtig, der Idealisierungen so klar zu widersprechen, wie Pörksen das in seinem Artikel tut: Nein, Facebook macht aus Diktaturen keine Basisdemokratie und überwindet auch nicht den Kapitalismus. Auch (oder gerade?) die vernetzte Masse ist anfällig für Einflussnahme, Spin Doctoring, die Vereinnahmung durch klassische Akteure der Mediengesellschaft, sei es für einen guten Zweck (Greenpeace gegen Nestlé) oder einen missbräuchlichen (Greenpeace gegen Shell).
  3. Als Teil fünften Gewalt erleben sich digital vernetzte Menschen nicht länger als „Opfer der Umstände“, als „wir hier unten gegen die da oben“ – sie treten selbst in eine Rolle des Handelnden im medialen Raum. Für ein bestimmtes Thema und für einen bestimmten Zeitraum werden Rezipienten zu Aktivisten. Der einzelne Fisch gewinnt Bedeutung und Bedeutsamkeit als Teil des Schwarms. Dabei treten dann nicht nur humanistisch-aufklärerische Motive zutage; viele Wortmeldungen in Facebook-Diskussionen und Online-Foren sind elend weit entfernt von „edel sei der Mensch, hilfreich und gut“. Was in den ersten drei Gewalten durch Verfassung und Gesetz in Schach gehalten wird und in der vierten zumindest prinzipiell durch journalistischen Kodex und Peer Review  in einer pluralistischen Gesellschaft, tritt in der fünften Gewalt oft offen zutage: Schonungslos, Hemmungslos, agitierend, polemisierend, nicht selten rassistisch. Auch Christen finde ich dabei nicht immer auf der respektvollen Seite der Auseinandersetzung wieder.
  4. Das Problem daran: Wie soll man darauf konstruktiv reagieren? In der vierten Gewalt gibt es noch eindeutige Ansprechpartner, ist Verantwortung noch klar verortet, existieren von der Programmbeschwerde bis zur Gegendarstellung  Werkzeuge, sich gegen die dunkle Seite von Medienmacht zur Wehr zu setzen. All das versagt angesichts der Schwarzintelligenz in sozialen Netzwerken, die eben manchmal auch Schwarmdummheit ist. Werden sich in der digitalen Gesellschaft Abläufe und Mechanismen herausbilden, die dafür sorgen, das konstruktive pluralistische Potential der fünften Gewalt frei zu setzen – und Empörungskultur und demagogische Tendenzen in Schach zu halten?

An diesen vier Punkten kann man gut festmachen, warum soziale Netzwerke eben tatsächlich mehr sind als die nächsten „neuen Medien“, die nächste technische Erfindung. Warum es nicht übertrieben ist, von einer „Medienrevolution“ zu sprechen: Nicht weil alles gut, besser und schön wird. Sondern weil wir als Einzelne wie als Gesellschaft aufgerufen und verantwortlich sind, unser Zusammenleben im medialen Raum neu zu denken und zu gestalten – eine Verantwortung auch für Christen und christliche Medienarbeit.

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