Corona-App: Gesunder Menschenverstand statt Kulturkampf

Ein Riss geht quer durch Smartphone-Deutschland. Aus zwei entgegengesetzten Richtungen schlagen wütende Wogen über einem Stück Software zusammen, die doch nur helfen wollte.

Aus der einen Richtung eine Flut von „#IchAppMit“-Stickern und Installationsbekenntnissen auf zahllosen Facebook-Profilen mit leicht nervendem missionarischen Sendungsbewusstsein. Aus der anderen Richtung eine Flut von wütenden Protesten, Vorwürfen und Unterstellungen unter Verweis auf „Selbständiges Denken“, „Sichere Quellen“ und „Alternative Webseiten“, je nach Belieben unterlegt mit Mutmaßungen über (Zutreffendes bitte ankreuzen):  Bill Gates und George Soros, implantierte Chips, die Nichtexistenz des Corona-Virus oder die „Neue Weltordnung“. Bei manchen Christen leider noch garniert mit einigen jeglichem Zusammenhang entrissenen Bibelversen.

Mittendrin: Die Corona-Warn-App, in Auftrag gegeben von einer Regierung mit dem Mandat und der Verantwortung für das Krisenmanagement eines Landes mit 80 Millionen Besserwissern, bereits in der Konzeptionsphase umkämpft und keine zwei Tage nach dem Start in deutscher Gründlichkeit analysiert, kritisiert, zerpflückt. Ich finde es interessant, wie schnell ein paar tausend Zeilen Computer-Code zum Symbol einer Auseinandersetzung werden kann, deren Furor an einen Kulturkampf erinnert. Einen Kulturkampf ohne Sinn und Verstand, in dem manche jedes Maß an Nüchternheit verloren haben und auch die Fähigkeit abzuwägen zwischen halb-gut und halb-schlecht. Ein Kulturkampf, indem Freunde sich auf Facebook ent-freunden, weil sie unterschiedlicher Meinung sind über… eine… App.

Geht’s noch?

Ohne jemandem zu nahe treten zu wollen – 99% der Beteiligten haben doch keine Ahnung von dem, was da im Zentrum der wogenden Meinungsfluten steht: Software. Daraus kann man nur einen Schluß ziehen: Das Ganze ist ein Stellvertreterkrieg. In Wahrheit geht es bei der Diskussion über die Corona-App nicht um Software, sondern – meine These – um die Verteilung und Zuweisung von Macht und Machtlosigkeit.

Darf ich einen Vorschlag machen?

Lasst uns den Kulturkampf  woanders austragen, unseren gesunden Menschenverstand einschalten und der Corona-App eine Chance geben. Denn wir haben derzeit nicht viele Mittel, um die exponentielle Ausbreitung der Pandemie einzugrenzen. Abstand halten, Hygieneregeln, Testen und Quarantäne, irgendwann hoffentlich Impfstoff – das war’s, mehr ist nicht. Wenn wir keinen neuen Lockdown wollen, werden wir Neuinfektionen schnell auffinden und die Betroffenen in ärztliche Behandlung bringen müssen. Und beim Auffinden kann die App vielleicht/hoffentlich/wahrscheinlich helfen.

Ist die App in Sachen Datenschutz 100% sicher? Das kann ich nicht wissen, aber das kann ich bei keiner meiner 52 Apps auf meinem Smartphone. Die Wahrscheinlichkeit ist hoch, dass die Corona-App so stark unter öffentlicher Beobachtung steht, dass sie eher überdurchschnittlich sicher ist.

Werden denn genug Menschen die App benutzen? Keine Ahnung, aber wenn alle erst abwarten ob alle sie benutzen ist das wie bei einer Party, die erst mit drei Stunden Verspätung losgeht, weil keiner der erste sein will, der die Party in Gang bringt. Und Verspätung wird uns bei einer Pandemie mit exponentiellem Wachstum teuer zu stehen kommen.

Darf mir der Staat vorschreiben, eine App zu installieren? Nein, darf er nicht – und tut er auch nicht. Im Gegensatz zur Straßenverkehrsordnung – und da ruft interessanterweise keiner „Neue Weltordnung“, weil das „Vorfahrt achten“-Schild in seine Freiheitsrechte eingreift. Wenn ich mit einer regierenden Partei politisch nicht einverstanden bin, wähle ich bei der nächsten Wahl eine andere. Und bis dahin akzeptiere ich ihr von der letzten Wählermehrheit erteilte Mandat, das Gemeinwohl für alle zu organisieren.

Ich finde es nicht sinnvoll zu warten, bis wir 80 Millionen Besserwisser ohne virologische Fachkompetenz (und nein, dieses Youtube-Video dass dir deine Bekannte geschickt hat zählt nicht) uns darauf geeinigt haben, wie man die Corona-Pandemie in den Griff kriegt. Deshalb habe ich die Corona-Warn-App installiert. Nicht weil ich absolut überzeugt bin, dass sie perfekt ist oder garantiert funktionieren wird. Aber ich bin im Alltag von ziemlich wenigen Dingen absolut überzeugt – und tue sie trotzdem, weil sie hinreichend sinnvoll sind. Meistens bin ich damit ganz gut gefahren. Und du machst das im Alltag doch sicherlich genauso.

Geben wir also der Corona-App eine faire Chance. Hinterher können wir dann ja alle gemeinsam schlau sein.

Corona-Warn-App installieren

1 Antwort
  1. Besserwisser ohne Fachkompetenz

    Es gibt auch ohne Aluhut genug bekannte technische und statistische Gründe gegen den Einsatz und den Nutzen der Corona-App. (Auch Christen dürfen gerne mal die rosarote Fortschritts-Brille in Sachen IT und Digitalisierung absetzen und sich daran erinnern, dass auch Unternehmen wie Google, Apple, SAP und Deutsche Telekom zur „gefallenen Welt“ zählen, außerdem Software nicht per se fehlerfreier und heiliger ist als der Rest des Lebens.)

    Zu beurteilen ist wie bei allen Apps und jedem Software-Einsatz nicht nur das Verhalten der App selbst, sondern auch Sicherheit und Datenschutz im Zusammenspiel des Gesamtsystems.

    Und da reißt die Corona-App z. B. durch das Erzwingen der ständigen Aktivität von Bluetooth, von der sonst dringend abgeraten wird, ganz andere Sicherheitsprobleme und Tracking-Möglichkeiten (z. B. in Supermärkten und Geschäften) auf.

    Der Mechanismus, der zur Verständigung von Apps bzw. Geräten untereinander nötig ist, kann natürlich auch zu ganz anderen Zwecken genutzt werden. Alles hat zwei Seiten. Wer von einer anderen Corona-App angepingt werden kann und Antwort gibt, wird auch von beliebigen Bluetooth-Sniffern wie BLE Scanner erfasst. Und es ist nur eine Frage kurzer Zeit, bis der ID-Wechsel als „Tracking-Schutz“ durch clevere Programmierer umgangen wird. Und Short Term Tracking kann auch mit ID-Wechsel stattfinden.

    Ein weiterer, nicht überraschender Aspekt ist gerade Forschern aus Dublin in Bezug auf mehrere europäische Corona-Tracing-Apps, die die neue Google- bzw. Apple-API nutzen, aufgefallen:

    „In marked contrast, we find that the Google Play Services component of these apps is extremely troubling from a privacy viewpoint. Google Play Services contacts Google servers roughly every 20 minutes, potentially allowing fine-grained location tracking via IP address. In addition, Google Play Services also share the phone IMEI, hardware serial number, SIM serial number, handset phone number and user email address with Google, together with fine-grained data on the apps running on the phone. This data collection is enabled simply by enabling Google Play Services, even when all other Google services and settings are disabled. It therefore appears to be unavoidable for users of GAEN-based contact tracing apps on Android. This level of intrusivenessseems incompatible with a recommendation for population-wide usage.“
    https://www.scss.tcd.ie/Doug.Leith/pubs/contact_tracing_app_traffic.pdf

    Vgl. auch
    http://www.kuketz-blog.de/leserfrage-nutzt-die-corona-tracing-app-proprietaere-google-apis/
    https://www.kuketz-blog.de/contact-tracing-apps-welche-daten-werden-zur-ermittlung-von-kontaktpersonen-genutzt/

    Ganz außen vor bleibt, dass die Bevölkerung aus Angst freiwillig eine „staatliche“ App installiert, was zum längerfristigen Schutz vor Missbrauch durch den Staat seit Jahren rechtlich heftig diskutiert wird. Natürlich ist die Corona-App nicht der Bundestrojaner, aber das ließe sich bei einem politischen Wetterwechsel über Nacht per Auto-Update beheben … Und wenn die Bevölkerung nun schon daran gewöhnt ist, werden sich auch weitere Anwendungen finden, dann mit abnehmender Freiwilligkeit.

    Man kann durch Information und Mitdenken bzw. „gesunden Menschenverstand“ bisweilen auch im Vorhinein schlau werden und Schaden vermeiden, ohne alles im Leben erst einmal ausprobiert zu haben. Erkannte Probleme und reale Gefahren einer Software aus programmatischer Gutgläubigkeit zu ignorieren, finde ich verantwortungslos.

    „Christlich“ wäre für mich, den Einsatz der App und Alternativen ethisch umfassend zu beleuchten, auch im Verhältnis zu dem beim momentanen Infektionsgeschehen absehbar minimalen Nutzen.

    PS. Inzwischen sind vier Wochen Einsatz vorbei:
    16.000.000 Downloads (das RKI kennt vermutlich auch die Zahl der Nutzer)
    500 Infektionsmeldungen, unbekannte Anzahl betroffener Kontakte
    aber: 28.400 erkannte Neuinfektionen bundesweit im gleichen Zeitraum

    Das heißt: Nur 1,7 % aller Infektionsmeldungen haben es in die App geschafft. Oder anders: Bei 100 Neuinfizierten, denen man unwahrscheinlicherweise begegnet, würde man nur in 2 Fällen im Nachhinein gewarnt.

    Die Wahrscheinlichkeit, dass man eine Eigeninfektion ohne App erkennt, liegt etwas höher …

    Aber hey, das RKI freut sich über den „Erfolg“, und Tamagotchis waren ja auch mal der Renner.

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