Herr, bitte lass mich kein Heuchler sein!

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Frag‘ einmal in einer ganz normalen Fußgängerzone ganz normale Leute, was Christen am häufigsten kritisieren. Vermutlich würdest du zu hören bekommen: Christen, die kritisieren immer den allgemeinen Werteverfall. Oder moralische Verfehlungen und schlechte Vorbilder. Oder die Ungerechtigkeit zwischen Arm und Reich… Du würdest vermutlich viele verschiedene Sachen zu hören bekommen, nur für eine Kritik sind Christen anscheinend nicht bekannt: Die Kritik an Heuchelei.

Ich finde das interessant. Denn Jesus hat kaum etwas durchgehend so hart kritisiert wie Heuchelei. Besonders bei denen, die für sich persönlich ein engeres Verhältnis zum Allmächtigen in Anspruch nehmen. Und ich frage mich: Könnte es sein, dass gerade die, die Gott gefallen wollen, anfällig dafür sind, sich selbst und anderen etwas vorzumachen? Dass gerade die, denen moralische Werte wichtig sind, anfällig dafür sind, sich selbst und anderen etwas vorzuspielen? Dass gerade die, die sich und anderen die Latte besonders hochlegen, sie weder überspringen können, noch dazu stehen, dass sie das nicht können?

Das Problem an Heuchelei: Es fällt mir schwer, sie bei mir selbst zu erkennen. Mein Denken und meine Wahrnehmung sind nicht gefeit gegen Selbstbetrug. Heuchelei ist im Spiegel unsichtbar. Jesus hat das seinen Freunden ausführlicher erklärt, und er beginnt mit einer Beobachtung – (Lukas 6, 41):

Wie kommt es, dass du den Splitter im Auge deines Bruders siehst, aber den Balken in deinem eigenen Auge nicht bemerkst?

Jesus beschreibt hier eine typisch menschlichen Wahrnehmungsstörung: Wir erkennen bei Anderen Fehler viel schneller als bei uns selbst. Und das auch in Maßlosigkeit: Bei anderen fallen uns Kleinigkeiten auf – der Splitter. Bei uns selbst dagegen bemerken wir selbst gravierende Macken manchmal nicht – den Balken. Wir sehen den kleinen Splitter im Auge der Anderen, aber bemerken nicht das grobe Vierkantholz im eigenen Auge. Soweit, so menschlich.

Die Heuchelei beginnt im zweiten Schritt, von dem Jesus spricht – wenn aus einer schiefen Wahrnehmung schiefe Kritik und Korrektur werden. Vers 42:

Wie kannst du zu deinem Bruder sagen: ›Bruder, halt still! Ich will den Splitter herausziehen, der in deinem Auge sitzt‹ – und bemerkst dabei den Balken im eigenen Auge nicht? Du Heuchler! Zieh zuerst den Balken aus deinem eigenen Auge; dann wirst du klar sehen und kannst den Splitter, der im Auge deines Bruders ist, herausziehen.«

Ich finde es äußerst logisch, was Jesus hier erklärt: Wer ein Stück Holz im Auge stecken hat, kann nicht richtig sehen, geschweige denn einem anderen einen Splitter aus dem Auge ziehen. Es zu versuchen bedeutet, den Balken im eigenen Auge zu verleugnen.

Dass ich die Schwächen des anderen wahrnehme, aber für meine eigenen Schwächen blind bin, das ist normal. Aber wehe, wenn ich in meiner eigenen Betriebsblindheit den anderen kritisiere und korrigiere – wie soll dabei etwas Gescheites rauskommen? Es zu versuchen – das, so Jesus, das ist Heuchelei.

Wohlgemerkt: Jesus verbietet hier nicht den Versuch, einen anderen Menschen durch konstruktive Kritik weiter zu helfen. Aber bitte erst dann, wenn ich den Balken im eigenen Auge erkenne und meine Wahrnehmung korrigiere und eine klare Sicht gewonnen habe. Alles andere nennt Jesus Heuchelei.

Mit dem Bild vom Splitter und vom Balken hält Jesus auch mir heute den Spiegel vor: Ich habe vielleicht Balken im Auge, die ich nicht sehen kann. Und ich bete, dass Gott mir hilft, den herauszuziehen. Und dass Gott mich bremst, den Splitter in den Augen der anderen zu kritisieren.

Herr, bitte lass mich kein Heuchler sein!

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