Barmherzigkeit – die einzig logische Option

Ein eigenartiges, turbulentes und verunsicherndes Jahr 2020 ist zu Ende. Das neue Jahr 2021 hat begonnen. In Form der so genannten Jahreslosung trägt es als geistliche Überschrift einen Satz von Jesus, nachzulesen in Lukas 6, 36:

Seid barmherzig, wie euer Vater barmherzig ist!

Ich stolpere über diesen Satz. Und ich bin ein bisschen entrüstet. Denn ich habe noch die Jahreslosung 2020 im Ohr: „Ich glaube, hilf meinem Unglauben“, ein sympathischer Satz, wie ich finde. Ein Satz, der  menschliche Unvollkommenheit benennt, ja sie geradezu voraussetzt: Ich glaube, hilf meinem Unglauben. Da ist nichts fertig, nichts über jeden Zweifel erhaben, nichts vollkommen.

Ganz anders dagegen die neue Jahreslosung 2021. Seid barmherzig, wie euer Vater barmherzig ist! Jesus, lässt du denn gar keinen Platz mehr für das Unfertige, den Zweifel, die allzu menschliche Unvollkommenheit?

Seid barmherzig, wie euer Vater barmherzig ist – was Jesus mit diesem Satz seinen Nachfolgern ans Herz legt, wird deutlicher, wenn wir die Vorgeschichte dieses Verses in den Blick nehmen – die so genannte Feldpredigt im Lukasevangelium. In dieser Rede zeichnet  Jesus den Kontrast nach zwischen dem schon immer weltweit Üblichen und dem neuen Leben im Einflussbereich Gottes. Zwischen dem, wie wir Menschen üblicherweise sind – und dem, wie wir sein könnten und sein sollten, wenn unser Leben von Gott berührt, geprägt und bestimmt wird.

„Wenn ihr die liebt, die euch Liebe erweisen“, so fragt Jesus seine Zuhörer in Vers 32, „verdient ihr dafür etwa besondere Anerkennung? Auch die Menschen, die nicht nach Gott fragen, lieben die, von denen sie Liebe erfahren.“

Oder, anders formuliert, Vers 33: „Wenn ihr denen Gutes tut, die euch Gutes tun, verdient ihr dafür besondere Anerkennung? So handeln doch auch die, die nicht nach Gott fragen.“

Oder, nochmal etwas konkreter, praktischer, Vers 34: „Wenn ihr denen leiht, von denen ihr ebenfalls etwas erwarten könnt, verdient ihr dafür besondere Anerkennung? Auch bei denen, die nicht nach Gott fragen, leiht einer dem anderen in der Hoffnung auf eine entsprechende Gegenleistung.“

Diejenigen lieben, die mich zurück lieben. Denen Gutes tun, die mir Gutes tun. Denen etwas leihen, die mir eine Gegenleistung anbieten – all das ist Jesus kein göttliches Gebot wert. All das ist für ihn nicht mehr als unsere typisch menschliche Transaktion: Liebe gegen Liebe, Gutes gegen Gutes, Gefallen gegen Gefallen.

Ich stelle mir vor, wie die Zuhörer von Jesus bis dahin noch zustimmend nicken: Klar, Jesus – so funktioniert unsere Welt. Du hast es erfasst! Leben wir Menschen nicht so? Wie sollte es anders sein?

Und dann, glaube ich, bleibt allen der Mund offen stehen, als Jesus weiterspricht und das Leben im Reich Gottes gegen das stellt, was seit altersher weltweit üblich ist. Lukas 6,35:“Nein, gerade eure Feinde sollt ihr lieben! Tut Gutes und leiht, ohne etwas zurückzuerwarten!“

Ich muss gestehen, wenn ich Jesus so höre, steht Widerspruch in mir auf: Bitte, Jesus? Menschen lieben, die mich ignorieren oder sogar verachten? Menschen Gutes tun, die mir nichts Gutes wollen? Menschen etwas leihen, die sich nie revanchieren? Wieso sollte ich das tun? Womit sollen die anderen das verdient haben? Und wo bleibe ich dabei?

Wenn ich ehrlich bin, ist mein innerer Widerspruch kein Widerspruch der Logik. Es ist der Widerspruch meines Stolzes – und der Widerspruch meiner Angst, ausgenutzt zu werden und zu kurz zu kommen.

Ich glaube: Dieser Stolz ist real. Diese Angst ist real. Und beide – der Stolz und die Angst – sind universell. Sie verbinden mich mit den Zuhörern von Jesus vor 2.000 Jahren. Und Jesus geht über unser aller Stolz und unser aller Angst nicht hinweg, sondern beantwortet gleich im nächsten Satz die unausgesprochene Frage, wieso seine Nachfolger anderen Menschen ohne Gegenleistung Liebe, Gutes und Entgegenkommen schenken können: „Dann wartet eine große Belohnung auf euch, und ihr werdet Söhne des Höchsten sein; denn auch er ist gütig gegen die Undankbaren und Bösen. Seid barmherzig, wie euer Vater barmherzig ist.“

Jetzt ist Jesus beim Kern seiner Argumentation angekommen – und beim Kern eines christlichen Umgangs mit seinen Mitmenschen: Wenn das Leben eines Menschen von Gott berührt, geprägt und bestimmt wird, dann befriedigt diese Zuwendung Gottes den Widerspruch seines Stolzes und den Widerspruch seiner Angst, zu kurz zu kommen. Dann gibt es keinen guten Grund mehr, andere Menschen nicht zu lieben, oder ihnen nichts Gutes zu tun.

Dann gibt es aber im Gegenteil einen guten Grund, anderen Menschen Barmherzigkeit zu schenken. Und dieser Grund liegt nicht in den anderen Menschen. Er liegt auch nicht in mir. Der Grund für Barmherzigkeit anderen Menschen gegenüber liegt allein in der Barmherzigkeit dessen begründet, der diese Menschen gemacht hat – und mich auch.

Weil Gott allen Menschen mit Barmherzigkeit begegnet, gibt es niemanden, der meine Barmherzigkeit nicht verdient hätte. Weil Gott allen Menschen mit Barmherzigkeit begegnet, gibt es kein Risiko, durch Barmherzigkeit selbst zu kurz zu kommen. Weil Gott, mein Vater im Himmel, barmherzig ist, möchte auch ich barmherzig sein, in aller  Unvollkommenheit, in allen Zweifeln, in aller Unfertigkeit. Man könnte sagen: Für alle, die einem barmherzigen Gott vertrauen, ist Barmherzigkeit die einzig logische Option.

Ich hoffe, dass im neuen Jahr die Barmherzigkeit Gottes  in meinem Leben ein bisschen lauter ist als der Widerspruch meines Stolzes und meiner Angst, zu kurz zu kommen. Ich bete, dass mich das etwas barmherziger mit anderen werden lässt, so wie mein Vater im Himmel mit mir barmherzig ist.

Und das wünsche ich Ihnen auch. Ein gesegnetes neues Jahr 2021 – unser barmherziger Vater im Himmel sei mit Ihnen!

4 Antworten
  1. Thomas Wolfgang Scherer

    An die diesjährige Jahreslosung werde ich mich oft erinnern (lassen müssen).
    Wir werden sie mit Leben füllen können – dazu werden sich viele Gelegenheiten bieten.
    Danke für diesen ehrlichen und guten Kommentar.

  2. Peter Frenzer

    Vielen Dank für diese Gedanken und die Einordnung der Jahreslosung in den biblischen Kontext.
    Mögen mit Gottes Hilfe unser Stolz kleiner und unsere Barmherzigkeit größer werden.

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