„Heuchler!“ – das ist interessanterweise einer der Vorwürfe, die Christinnen und Christen am häufigsten zu hören bekommen. Ich sage „interessanterweise“, weil Jesus selbst diesen Vorwurf nie zu hören bekommen hat. Warum halten viele Jesus für aufrichtig, seine Nachfolger aber eher weniger?
Schon die ersten Christen hatten mit einer Lücke zwischen Sein und Schein zu kämpfen, denn der Apostel Johannes setzt sich in seinen Briefen schon kurz nach Tod und Auferstehung von Jesus selbstkritisch damit auseinander. Er schreibt in 1. Johannesbrief 2,3-6:
Wer sagt: Ich habe [Christus] erkannt, und hält seine Gebote nicht, der ist ein Lügner, und in dem ist die Wahrheit nicht. Wer aber sein Wort hält, in dem ist wahrlich die Liebe Gottes vollkommen. Daran erkennen wir, dass wir in ihm sind. Wer sagt, dass er in ihm bleibt, der soll so leben, wie er gelebt hat.
„In ihm sein“, damit meint Johannes die vollkommene Identifikation eines Menschen mit Jesus. Ein inniges Zusammenleben mit dem unsichtbaren, auferstandenen Christus durch Dick und Dünn. Und Johannes besteht dabei auf Wahrhaftigkeit: Sich derart vollkommen mit Jesus zu identifizieren, das ist schnell gesagt. Aber am Ende zählt, was im echten Leben ankommt. Ob der Mensch, der sich da so selbstsicher mit Jesus identifiziert, am Ende auch „seine Gebote hält“. Alles andere hätte den Vorwurf der Heuchelei wirklich verdient.
Johannes fordert nicht Tugendhaftigkeit, sondern Wahrhaftigkeit. Für mich atmet das Freiheit: Ich muss vor Gott nicht so tun, als wäre ich vollkommen. Vielleicht hilft diese Erkenntnis dabei, es auch vor Menschen weniger oft zu versuchen. Und mehr von dem auszustrahlen, was Jesus so unfassbar anziehend macht: Er interessiert sich nicht wirklich für den Schein, sondern wahrhaftig für mein Sein.