„Die Erde ist eine Scheibe“ – unter diesem Titel hat Alard von Kittlitz dieser Tage in der ZEIT unter die Lupe genommen, wie sich unsere Diskussionskultur in Zeiten von Trump, Brexit und AfD verändern. Seine Diagnose klingt durchaus bedrohlich für eine aufgeklärte, pluralistische, freiheitliche und demokratische Gesellschaft. Ein paar Schlaglichter:
Rudi Guiliani behauptet in Unterstützung von Donald Trump, vor der Amtszeit von Barack Obama hätte es keine nennenswerten Terroranschläge auf amerikanischem Boden gegeben. Zur Erinnerung: Guiliani war Bürgermeister von New York und George Bush Präseident, als am 11. September 2011 beim monströsesten Terroranschlag der US-Geschichte 3.000 Menschen ihr Leben verloren. Guiliani tut so, als hätte es diesen Tag nie gegeben, aber er bekommt Beifall für sein Statement.
Von Kittlitz analysiert:
„Selbst die Leute, die ihm applaudieren, wissen im Zweifelsfalle, dass das gerade eine Lüge war. Aber es ist ihnen gleichgültig. Die Frage, ob etwas den Fakten entspricht, verliert offenbar an Relevanz […] Es geht hier um Gefühl. Giuliani weiß: Für die Leute vor ihm im Publikum ist es gefühlt wahr, dass seit Obama alles schlimmer geworden ist, auch der Terror. Seine Lüge nimmt dieses Gefühl auf, seine Lüge bestätigt es.“
Das ist das, was die Amerikaner post-truth politics nennen, Politik, die sich nicht länger für die Fakten interessiert.
Diese Art der öffentlichen Diskussion ist nicht alleine in den USA zu Hause; Alard von Kittlitz findet auch in Europa eine ganze Reihe von Beispielen:
Die Brexit-Befürworter rund um Nicolas Farage und Boris Johnson behaupteten bis zur Abstimmung, dass mit dem EU-Austritt Großbritannieren sofort 350 Millionen Pfund für das marodische britische Gesundheitssystem NHS zur Verfügung stünden. Bereits am Tag nach der gewonnen Abstimmung räumten sie ein, dass dies erfunden gewesen sei.
Alexander Gauland behauptet, die Bundesregierung plane, die deutsche Bevölkerung durch Migranten zu ersetzen. Wie alle Verschwörungstheorien lässt sich diese Behauptung weder beweisen noch widerlegen – aber an Fakten ist Gaulands Behauptung auch gar nicht interessiert, weil sie ein Gefühl bedient, und mehr soll sie auch gar nicht.
In diesem Klima wächst das Misstrauen gegenüber Politik, Medien und „denen da oben“ im Allgemeinen. Von Kittlitz konstatiert, dass „das Misstrauen die Voraussetzung einer Politik jenseits des Faktischen [ist]. Denn wer sagt, dass alle Politiker lügen, macht seine Entscheidungsfindung nicht mehr von der Wahrheitsfrage abhängig. […] In einer Welt umfassenden Misstrauens geht es nicht mehr um Faktizität, sondern um Sympathie.“
Und: „die Debattenkultur wird damit den Gesetzen von Like und Dislike unterworfen. Der Wert einer politischen Aussage bemisst sich nicht an ihrer Stichhaltigkeit oder ihren Konsequenzen, sondern allein an ihrem Zustimmungspotenzial.“
In der deutschen Sprache gibt es die „bittere Wahrheit“. Wir sind auf dem besten Wege, die Wahrheit nicht süß zu machen, sondern ihre schiere Existenz zunehmend zu verleugnen und durch Lügen zu ersetzen, die wir gerne hören wollen. Man könnte sagen, es ist die versuchte Kastration der Wirklichkeit.
Post-truth politics gewinnt Anhänger unter all jenen, die an bitteren Wahrheiten und unbequemen Fakten nicht interessiert sind, die in ihrem subjektiven Weltbild bestätigt und nicht bedroht werden wollen. Von Kittlitz‘ düstere Prognose lautet: „Uns droht eine Welt ohne gemeinsame Tatsachen.“
Mir macht das Sorge: Fortschritt, Entwicklung, Erfindungen, Weiterentwicklung, überhaupt ein erwachsener Umgang mit der Welt -alles beruht darauf, dass wir lernen, Wahrheiten zu akzeptieren und auf Grundlage der Fakten nach Lösungen und Verbesserungen zu suchen. Was passiert aber, wenn wir das als Gesellschaft gar nicht mehr wollen? Wenn wir der Wirklichkeit den Grund entziehen? Wenn sich dieser Umgang mit Fakten in einer ganzen Gesellschaft durchsetzt, dann gibt es keine gemeinsame Suche nach den besten Lösungen mehr.
Ich bin froh, dass wir im Zuge von Aufklärung und Demokratie unabhängig geworden sind von menschlichen Autoritäten, die uns sagen wie wir die Welt gefälligst zu sehen haben. Meine Befürchtung ist: Wenn uns die Fakten nicht länger interessieren, werden wir neu abhängig – diesmal von Anführern, die uns unter Ignoranz sämtlicher Fakten das Gefühl geben, das wir gerne hätten.
Diese Abhängigkeit müsste uns aus der Entstehung von radikalen Ideologien und Sekten eigentlich bestens vertraut sein. Schon der Apostel Paulus hat sich im 1. Jahrhundert nach Christus mit einer drohenden Entwicklung auseinander gesetzt, die man vielleicht post-truth theology nennen könnte. Seine Prognose (2. Timotheus 4,3):
„Es kommt eine Zeit, da werden die Menschen der gesunden Lehre des Evangeliums kein Gehör mehr schenken. Stattdessen werden sie sich Lehrer aussuchen, die ihren eigenen Vorstellungen entsprechen und die ihnen das sagen, was sie hören möchten. Sie werden die Ohren vor der Wahrheit verschließen und sich Legenden und Spekulationen zuwenden.“
Paulus‘ anschließende Empfehlung gilt zunächst für den Kontext theologischer Verkündigung, lässt sich aber ohne weiteres auf unsere gesellschaftliche Debatten(un-)kultur übertragen:
„Du aber sollst besonnen bleiben, was auch immer geschieht!“
Ich hoffe, dass in Politik und Medien, in Kirche und Gesellschaft, in Familien und Vereinen, die Besonnenen die Oberhand behalten. Ich hoffe, dass wir aufhören, die Wirklichkeit zu kastrieren. Wir schaden uns nur selbst.
Und – sorry, Postmoderne – an der Wirklichkeit kommen wir so oder so nicht vorbei. Was mich angeht, würde ich nur lieber auf ihr vorwärts gehen als unsanft auf sie aufschlagen.
Das erinnert mich an eines meiner Lieblingszitate von Philip K. Dick: „Reality is that which, when you stop believing in it, doesn’t go away.“
Das erinnert mich an eins meiner Lieblingszitate von Philip K. Dick: „Reality is that which, when you stop believing in it, doesn’t go away.“
Und genau das macht mir Angst, zusammen mit der gefühlten Unmöglichkeit, etwas dagegen zu tun.