Neulich saß ich bei einem Glas Wein zusammen mit anderen Menschen in Leitungsverantwortung – etwas, das ich im Lauf der Jahre sehr schätzen gelernt habe: Ein geschützter Raum, in dem persönliche Lasten angesprochen, Selbstzweifel ausgesprochen und neuer Mut zugesprochen werden.
(Ich finde das übrigens ziemlich wichtig für Menschen „auf der Bühne“, die zwar von vielen Menschen gekannt, manchmal bewundert und immer auch kritisiert werden, die aber damit manchmal ziemlich alleine klarkommen müssen, was ihre Verantwortung mit ihnen macht. Falls du Leiterin oder Leiter bist und noch nie über so einen geschützten Raum nachgedacht hast, mach dir jetzt ein To Do, dass du andere ansprichst und dich mit ihnen verabredest, denen es ähnlich gehen könnte (am besten jetzt gleich – ja, so wichtig ist das.)
Während wir da also einander erzählten und einander zuhörten, sind mir die drei Bereiche aufgefallen, in die sich die Anstrengungen, Herausforderungen und manchmal auch Überforderungen von Leiterinnen und Leitern einsortieren lassen.
Gestalten
Da sind zum einen die Dinge, über die relativ oft gesprochen wird, und die irgendwann die Rechenschaftsberichte und Pressemeldungen füllen. Das, wofür die meisten Menschen überhaupt Leitungsverantwortung übernehmen: Die Dinge, die wir gestalten können. Initiativen und Projekte, die wir anschieben, für die wir andere gewinnen, die etwas Neues in die Wirklichkeit führen, von dem wir innerlich schon lange überzeugt sind, dass es werden könnte und werden sollte.
Das heißt nicht, dass alles gelingt (oder am Ende so wird, wie ich mir das an Tag eins vorgestellt hatte), aber es gibt diese Dinge, die ich gestalten will. Gestalten darf. Gestalten kann. Gestalten – das ist ein proaktives Denken und Handeln, es baut Zukunft. Und brauchen wir nicht überall in unserer Gesellschaft, unseren Kirchen und Gemeinden Leiterinnen und Leiter, die Zukunft in sich tragen?
Beenden
Da gibt es aber noch etwas zweites, und darüber sprechen Menschen in Leitungsverantwortung weniger gern öffentlich, weil sie wissen, dass es für andere unbequem oder schmerzhaft sein kann. Und doch gehört es zum ersten dazu, es ist sozusagen die Kehrseite: Wer Neues gestalten will, muss immer wieder auch Altes beenden.
„Neue Besen kehren gut“, sagt der Volksmund. Oder wir sprechen von „Alte Zöpfe abschneiden“. Haareschneiden klingt schmerzfrei, aber als Leiterin oder als Leiter etwas beenden ist oft alles andere als schmerzfrei. Denn das meiste, was da zu beenden ist, hat eine Geschichte. Es gibt Menschen, die mit dem betreffenden Projekt oder Programm identifiziert und emotional verbunden sind.
Und wer emotional verbunden ist, denkt und reagiert nicht ausschließlich rational. Selbst wenn für alle völlig klar ist, dass ein Thema in einer Organisation, Kirche oder Firma beendet werden sollte, ist die Leiterin oder der Leiter die Person, die letztlich nicht nur für die rationale Entscheidung den Kopf hinhält, sondern immer auch Projektionsfläche und Auffangbehälter ist für die Emotionen der Anderen.
Aushalten
Und da ist drittens das, was Menschen in Leitungsverantwortung oft mitbringen, wenn sie nach Hause kommen (oder sich untereinander treffen): Die Dinge, die wir aushalten. Dinge, wie wir durchtragen. Probleme, die nicht gelöst werden können, auch wenn man sich alle Mühe gegeben hat. Konflikte, die nicht beigelegt werden können, auch wenn man alles versucht hat. Missverständnisse und Vorwürfe, die nicht ausgeräumt werden können, auch wenn man schlagende Argumente auf seiner Seite hat. Schwierige Menschen, denen man nicht aus dem Weg gehen kann. Systemfehler in Organisationen, die durch keine Leitungsbegabung oder Persönlichkeitsreife der Welt überwunden werden können. Manche Probleme und Zustände übernimmt man an Tag 1 einer Leitungsrolle, und reicht sie am letzten Tag an seine Nachfolgerin oder seinen Nachfolger weiterreichen. Nicht weil man das selbst so will, sondern weil sich eine Sache als derzeit unlösbar erwiesen hat.
Es gibt diese Dinge, bei denen Aushalten und aufrichtiges Durchtragen das einzige ist, was wir in Leitungsverantwortung tun können. Nicht selten zahlen Menschen in Leitungsverantwortung für dieses Aushalten einen persönlichen Preis, manchmal auch einen bleibenden.
Und was macht das mit dir?
Gestalten – Beenden – Aushalten… zum Glück kommen diese drei Dinge meistens nicht gleich häufig vor. Die meisten Leiterinnen und Leiter, die ich kenne, haben viel mehr Dinge, die sie gestalten können, als Dinge, die sie beenden müssen oder einfach nur aushalten können. Gut so – denn wer außer Masochisten oder Narzissten wäre sonst überhaupt noch bereit, in unserer Gesellschaft, in unseren Kirchen und Firmen und Organisationen Leitungsverantwortung zu übernehmen?
Aber es gibt eben schon immer alle drei Erfahrungen. Deshalb ist ein realistischer Blick wichtig, und ein geschützter Raum, um alle drei Erfahrungen zu reflektieren mit anderen, diese Erfahrung auch kennen. Und wenn wir ganz ehrlich sind, stellen wir fest: Gestalten, Beenden, Aushalten – das ist nicht nur die Aufgabe „da draußen“, in den Kontexten und Wirkungsfeldern, in denen ich Leitungsverantwortung trage. Gestalten, Beenden, Aushalten – das ist eine fortwährende Aufgabe auch in meinem eigenen Inneren. In meinen Gedanken und in meiner Seele. Dort, wo es keiner sieht.
Ich glaube, 50% effektiver Leiterschaft besteht in der Selbstführung: Die eigenen Ziele, Visionen, Träume, Probleme, Emotionen, Hürden, Fragen, Fehler, Zweifel und verpasste Momente wahrzunehmen. Zu gestalten. Manches davon beenden zu müssen. Und manchmal auch mich selbst auszuhalten an Stellen, die ich auch über Jahre einfach nicht ändern kann, egal wie sehr ich das will und Gott darum bitte.
Aber am Ende kann ich nur leiten als der, der ich bin. Deshalb ist es wichtig für jede Leiterin und Leiter, sich selbst zu begegnen. Und auch dafür braucht es einen geschützten Raum und andere, die mir helfen, mein eigenes Innenleben zu gestalten. Manches zu beenden, was ich lieb gewonnen hatte. Und wieder anderes an mir und in mir einfach aushalten zu lernen.
Das letzte Wort
Und ich bin heilfroh – im wahrsten Sinne des Wortes – dass ich mit all diesem Gestalten, Beenden und Aushalten nie ganz alleine bin. Dass mein Leben (und auch mein Leiten) gehalten und getragen ist von einem, der die ganze Zeit über weiß, wie es mir wirklich geht. Besser, als ich selbst das weiß (oder wahrhaben will).
Wenn ich den Worten des Apostel Paulus folge (1. Korinther 4), dann ist da einer, der die Dinge sieht, wie sie wirklich sind. Einer, dessen Bewertung mehr zählt als die von Bewunderern, Kritikern, ja selbst als meine eigene:
Was erwartet man von jemandem, dem eine Aufgabe anvertraut ist? Man erwartet, dass er sie zuverlässig ausführt. Allerdings hat es für mich keinerlei Bedeutung, welches Urteil ihr über mich fällt oder ob sonst irgendeine menschliche Instanz über mich zu Gericht sitzt. Nicht einmal ich selbst maße mir ein Urteil über mich an. Ich wüsste zwar nicht, dass ich mir etwas hätte zuschulden kommen lassen, aber damit bin ich noch nicht gerechtfertigt. Entscheidend ist das Urteil, das der Herr über mich spricht.
Klingt ein bisschen robust, aber diese Sätze sind nicht als Selbstimmunisierung gegen Kritik gedacht oder als Abwehr berechtigter Anfragen. Sie sind für Menschen in Leitungsverantwortung in allem Gestalten, Beenden und Aushalten – äußerlich wie innerlich – eine Art geistliches Rückgrat, das Souveränität schenkt und vor Unfreiheit bewahrt.
Diese Sätze erinnern mich daran, im Dialog zu bleiben mit dem, der mich ins Leben gerufen hat, der aus Berufen eine Berufung macht. Und der durch alles Gestalten, Beenden und Aushalten hindurch nie aufgehört hat, mich zu lieben.