Wenn du vor lauter Leidenschaft den Fortschritt verpasst

Letzte Woche habe ich zum zweiten Mal an einer Veranstaltung in Passau teilgenommen, die noch vor zehn Jahren so vermutlich nicht möglich gewesen wäre. Bei dieser „missionarisch-ökumenische Begegnung“ haben sich Leitende Verantwortliche aus katholischen Bistümern (darunter nicht weniger als vier Bischöfe) und der Evangelischen Allianz in Deutschland zwei Tage lang zusammen gesetzt, um über alle theologischen Unterschiede hinweg zu lernen. Übereinander zu lernen. Voneinander zu lernen. Vielleicht sogar: Miteinander zu lernen.

Dabei ging es nicht nur um Austausch und Diskussion der jeweiligen theologischen Perspektiven auf die beste Botschaft der Welt und den Sendungsauftrag von Jesus für seine Nachfolgerinnen und Nachfolger. Sondern viel mehr um persönliches Kennenlernen, Vernetzen und  das gemeinsame Gebet zu dem Gott, den wir gemeinsam lieben – auch wenn wir das in den sprachlich und liturgisch oft so verschieden zum Ausdruck bringen.

Mich hat dieses zweitägige Treffen sehr ermutigt: Ich habe meine katholischen Brüder und Schwestern besser verstanden und mehr schätzen gelernt, mit welcher Leidenschaft und Glaubenstiefe sie wie ich versuchen, Jesus nachzufolgen und in dieser oft so zersplitterten und entmutigenden Welt neuen Sinn und Hoffnung zu stiften.

Bei diesem Treffen ist dann auch dieses offizielles Pressefoto aller Teilnehmerinnen und Teilnehmer entstanden:

Dieses Foto habe ich dann über meine Social Media Kanäle verteilt, und innerhalb weniger Tage über 100 Likes und 60 Kommentare dazu auf meinem Facebook-Profil erhalten.

In den meisten Kommentaren ging es aber weniger um den Fortschritt, den eine solche Begegnung auf persönlicher Augenhöhe zwischen Verantwortungsträgern von katholischer Kirche und aus dem Raum der Evangelischer Allianz darstellt. Sondern um eine auffällige Schieflage: Offensichtlich gab es bei der „missionarisch-ökumenischen Begegnung“ viele Teilnehmer, aber nur wenige Teilnehmerinnen. Viele Männer, wenige Frauen in Leitungsverantwortung?

„Nicht euer Ernst“, „peinlich“ – so lauteten einige der empörten Hinweise und Rückmeldungen. Da half auch kein Hinweis auf die Tatsache, dass eine ganze Reihe von Leiterinnen eingeladen war, aber absagen musste.

Für die katholische Seite kann ich nicht sprechen (ich vermute, das katholische Amtsverständnis lässt da wenig anderes zu), und ich bin froh, dass wir bei ERF – Der Sinnsender, wo ich hauptamtlich Leitungsverantwortung trage, keinen Unterschied machen zwischen Männern und Frauen – sei es bei der Vergütung, bei der Besetzung von Führungsrollen oder im Verkündigungsdienst.

Darüber hinaus kann ich für die „christliche Szene“, in der ich mich bewege und die mich geistlich geprägt hat, nur sagen: Ja, wir haben eklatanten Nachholbedarf! Ja, es wird höchste Zeit, dass Leitungsämter in unseren Gremien gleichermaßen mit Frauen wie mit Männern besetzt werden! Ja, dieses Foto kommuniziert auch einen offensichtlichen Mangel an Diversität. Ja, wir können nicht das volle Potential der Gemeinde Jesu in dieser Welt abrufen, wenn wir in ihre Leitungspositionen nur die eine Hälfte fördern, herausfordern und berufen!

Aber – und das ist meine Leadership Lesson aus dem „Mini-Shitstorm“ zu obigem Foto: Man kann vor lauter Leidenschaft für eine bestimme Baustelle und ein äußerst berechtigtes Anliegen den Fortschritt völlig aus dem Blick verlieren, der an einer anderen Stelle stattfindet. Na klar – wer seit Jahren darunter leidet, wie selbstverständlich in manchen christlichen Kreisen auch im Jahr 2022 noch „Leitung“ automatisch „Leiter“ bedeutet und nicht „Leiterin“ – den triggert so ein Foto unweigerlich, und das zu Recht (von blindem Aktivismus und moralischer Arroganz in bestimmten Fragen, die es manchmal auch geben mag, sei an dieser Stelle einmal abgesehen). Aber ist es nicht auch ein bedeutsamer Fortschritt, wenn sich Christinnen und Christen über Denominationsgrenzen hinweg eins machen im Anliegen von Jesus, dass „die Welt erkenne, dass ihr meine Jünger seid„?

Ich glaube: Ja. Und ich glaube: Gott schenkt Fortschritt nicht immer in dem Themenfeld, wo ich ihn vielleicht schon seit Jahren schmerzlich vermisse und worauf ich deshalb meine Aufmerksamkeit konzentriere (und meine Kommentare unter Facebook-Posts). Sondern manchmal ganz abseits meiner Aufmerksamkeit.

Und ich meine: Wenn Gott irgendwo Fortschritt, Entwicklung und Wachstum schenkt, dann können wir es uns als Leitende – als Männer wie als Frauen – nicht leisten, ihn zu übersehen, nur weil er nicht genau dort stattfindet, wo wir ihn erwarten. Das gilt im Miteinander von Männern und Frauen genauso wie im Verhältnis von großen, etablierten Organisationen und kleinen Startups – oder eben in dem von Katholiken und freikirchlich, pietistisch oder evangelikal geprägten Christenmenschen.

Ich würde deshalb jederzeit wieder nach Passau fahren. Und meinen Mit-Leiterinnen in jedem Fall Mut machen, beim nächsten Mal unbedingt mit dabei zu sein.

5 Antworten
  1. Roth

    Danke Hr. Dr. Dechert, gut erkannt und kommuniziert. Es wird immer Hardliner geben, egal in welcher Richtung. Sicher haben diese auch ihre Argumente aber „Mann“ sowie Frau muss auch Weitblick haben, solange wir Christen uns nicht in Moscheen fotografieren lassen und uns „vereinigen“ ist doch alles ok. Und das Thema Quote kann ich nicht mehr hoeren, es ist doch nun wirklich viel gemacht worden in den letzten Jahren, oder? Ich Wuensche Ihnen viel Kraft und super das Sie Stellung bezogen haben… Gott segne Sie..

    1. Martin Oberkinkhaus

      Ha das isr die ricgtige Richtyng…Das Gottesreicg auf Ersen braicht diese kleinen Schrirrw aufeinander zu- geeade bei jahrhubderteallten Traditionen in den unterschiedlichen Kirchen ubd Gemeindchagyr…

  2. Ich glaube, dass der Mangel an Frauen bei diesem Treffen auch auf katholischer Seite wenig mit dem Amtsverständnis an sich zu tun hat, weil dieses letztlich nur die Sakramentenverwaltung betrifft. Die Gründe werden dort ziemich ähnlich sein wie bei uns Freikirchlern und Evangelischen.
    Gerade beim Thema Evangelisierung (um den katholischerseits bevorzugten Begriff zu verwenden) sind durchaus auch Frauen in leitenden Funktionen aktiv.

  3. Philipp Pfeiffer

    Auf jeden Fall wieder zu einem solchen Treffen gehen, lieber Jörg Dechert. Die Gleichberechtigungsfrage ist ohne Zweifel bedeutsam – aber dieser Fortschritt in Sachen gemeinsam das Evangelium zu verkünden überragt dieses Thema weit – erst recht in Anerkennung der Bemühungen aller Beteiligten! Weiterhin ganz viel Weisheit, Erkenntnis und Enschlusskraft !

  4. Berger

    Ich denke, dass die „Frauenfrage“ wieder einmal unnötig hoch gespielt wird. Damit beziehe ich mich ausschließlich zu den Kommentaren auf Facebook zu o.g. Foto. Es kann doch nicht allen Ernstes der Zweck dieses segensreichen ökumenischen Treffens von der Frauenärzte übermalt werden.
    Natürlich sollen Frauen gleichberechtigt sein. Das steht ausser Frage. Aber es gibt so viele potenzielle Gründe, warum Frauen nur in geringer Anzahl dabei waren. Künstlich eine 50 Prozent Quote zu erzeugen, würde den Auftrag im Reich Gottes in den Hintergrund treten lassen

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