Wie man die Zukunft gewinnt

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„Weniger als die Hälfte der Deutschen noch Mitglied in einer christlichen Kirche“, „Vereine mit großen Nachwuchsproblemen“, „Bindungskraft politischer Parteien sinkt“, „Arbeitgeber ringen mit den Erwartungen der Generation Z“… so oder so ähnlich lauten derzeit Schlagzeilen über die Veränderungen, die wir als Gesellschaft erleben. Veränderungen, die sich nicht für irgendwann am Horizont abzeichnen. Wir stecken längst mittendrin, alle.

Verantwortliche in Parteien, Gewerkschaften, Kirchen, Vereinen, Verbänden und Konzern sind sich bei aller Verschiedenheit in zwei Dingen einig: Das Umfeld ihrer Organisationen ist einer zunehmenden Geschwindigkeit von Veränderungen ausgesetzt. Und Organisationen, die keine guten Antworten auf diese Veränderungen finden, werden wahrscheinlich keine gute Zukunft haben.

Diese Erkenntnis ist alles andere als bequem, für die betroffenen Organisationen genauso wie für ihre Leitungsverantwortlichen und Mandatsträger. Das gilt auch für Organisationen, die mehr oder weniger ausdrücklich mit zeitlosen Wahrheiten und ewigen Werten umgehen. Es gilt für christliche Kirchen und Gemeinden, Werke und Verbände.

Wir können nicht bleiben, wo wir sind

Bei aller Verschiedenheit ist für alle Organisationen der Startpunkt für die Veränderung meist der gleiche, nämlich die wachsende Erkenntnis: Wir können nicht bleiben, wo wir sind.

Weil es insbesondere in stark gremienbasierten Organisation immer weniger gelingt, die nachwachsende Generationen Y und Z zu erreichen und in Gestaltungsverantwortung einzubinden.

Weil es mit zentralen Gremien aus Funktionären immer schwerer fällt, die Ausdifferenzierung unserer Gesellschaft nach Denominationen, Generationen und kultureller Herkunft abzubilden.

Weil der kommunikative Abstand zwischen einer steuernden Zentrale und einer oft dezentralen Basis  mit klassischen Strukturen immer schwieriger zu überbrücken ist.

Weil die Mobilität der Unterstützerinnen und Unterstützer zwischen verschiedenen christlichen Gemeinden, Verbänden und Werken größer geworden ist – und innerhalb dieser Organisationen die Bindungskraft kleiner.

Weil in Zeiten anhaltender und schneller Veränderungen Bewegungen mehr Gestaltungskraft haben als etablierte Institutionen.

Am Ausgangspunkt jedes Veränderungsprozesses steht also der Entschluss: Wir wollen uns verändern, um in einer veränderten Welt entsprechend unserer geistlichen Berufung weiter wirksam zu sein. Auch wenn das nicht einfach ist.

Warum Veränderung so schwierig ist

Veränderung zu initiieren und zu organisieren ist Aufwand, braucht Kraft und Zeit zusätzlich zum „Tagesgeschäft“, für das man als Organisation doch „eigentlich“ da ist. Visionsfindung, Beratungsgespräche, Zukunftswerkstätten, Kommunikationsmaßnahmen und Beteiligungsformate für die Betroffenen – all das lässt sich kaum im Rahmen etablierter Gremiensitzungen „nebenher“ abhandeln.

Veränderungsprozesse bedeuten Verunsicherung, weil sie in Frage stellen, was ist. Was läuft heute gut, wo gibt es Probleme? Welche Annahmen aus der Vergangenheit sind unausgesprochen noch da – aber für die Zukunft nicht mehr hilfreich? Wozu hat Gott uns berufen, und auf welche Art und Weise können wir diese Berufung in einer veränderten Welt leben, um sie weiterhin genauso ernst zu nehmen, wie es unsere Väter (und Mütter) taten?

Wenn sich eine Organisation verändern will, muss sie ihre Konstanten definieren. Sie muss sich neu darüber verständigen, was ihre Identität ist, ihre Kultur, ihre Werte. Vieles davon ist im Lauf der Jahrzehnte selbstverständlich geworden, und muss jetzt wieder bewusst neu zum Thema gemacht werden. Je mehr Veränderung dran ist, desto klarer muss sie herausarbeiten, was unverändert bleiben soll.

Veränderung bedeutet in einer Organisation immer auch die neue Klärung von Machtfragen. Und seien wir ehrlich: Das gilt auch für christliche Kirchen und Gemeinden. Wie und wo sollen Entscheidungen getroffen werden, wie wird Wissen organisiert, wer übt im Konfliktfall die Aufsicht aus? Und in dezentralen Organisationen wie einem Dachverband oder einem Netzwerk: Was entscheidet die Zentrale, und welchen Freiraum gibt es in der Fläche?

Veränderung ist immer auch Risiko, für die beteiligten Leitungsverantwortlichen persönlich wie auch für die Organisation als Ganzes. Was, wenn der Veränderungsprozess misslingt? Was, wenn am Ende alles schlechter wird, als es vorher war? Oder wenn die Menschen die Veränderungen nicht als notwendig ansehen, sie nicht akzeptieren und am Ende der Organisation deswegen den Rücken kehren?

Ein Weg, eine Entscheidung, eine Hoffnung

Gelingende Zukunftsprozesse können nicht am grünen Tisch im Hinterzimmer eines Gremiums abgehandelt werden. Sie brauchen das Hinhören und die Beteiligung der Menschen, die man künftig erreichen und einbinden will – die aber bisher noch gar keine Mitglieder oder Mandatsträger sind. Das ist ein ziemlich anstrengender Weg. Weil er Abkürzungen schlecht verträgt, weil er eigene Annahmen und Bequemlichkeiten in Frage stellt, weil er unterwegs weitere Herausforderungen sichtbar werden lässt, die die Verantwortlichen beim Losgehen vielleicht noch gar nicht auf dem Schirm hatten.

Aber wenn man diesen Weg durchhält, wenn man nicht aufgibt, nicht abkürzt, sich allen auftauchenden Fragen stellt, dann hat auch dieser Weg am Ende eine Schlussetappe. Und vielleicht ist das der Moment in einem Veränderungsprozess mit dem größten Herzklopfen – das Loslassen und Sich-neu-Einlassen.

Man kann sich da nicht zu 100% absichern, ob es alles so funktionieren wird wie erhofft. Bei aller Partizipation von internen und externen Mitwirkenden müssen sich die Verantwortlichen der Organisation am Ende entscheiden. Nach allem kreativen Planen und ausführlichen Diskutieren muss ein solcher Veränderungsprozess zu einem Moment der Entscheidung kommen.

Ich finde, christliche Organisationen sollten keine Angst vor diesem Moment der Entscheidung haben. Ja, sie sollten und müssen auf dem Weg der Veränderung ihre „Hausaufgaben“ machen. Aber sie gehen diesen Weg nicht alleine, und sind auch mit den Konsequenzen ihrer Entscheidungen nicht alleine. Denn der Gott, von dem in christlichen Organisationen so oft die Rede ist, ist mit ihnen unterwegs.

Veränderung gehört zwingend zum Leben, auch zum Leben in christlichen Kirchen und Gemeinden. Nicht als Übel, mit dem man leider leben muss – sondern als Chance für neue Aufbrüche und neue Segensspuren. Christinnen und Christen haben im Lauf der Kirchengeschichte tausendfach erfahren, dass Gott Veränderungen benutzt, in die Wirklichkeit zu führen, was aus seiner Sicht sein könnte und sein sollte.

Es braucht die Hellsichtigkeit, einen Veränderungsprozess zu starten, wenn er notwendig wird. Es braucht Offenheit und Lernbereitschaft, ihn zu gehen und andere daran zu beteiligen . Es braucht Kraft und Beharrlichkeit, ihn zu einer Entscheidungsreife zu bringen. Und am Ende braucht es das Mut, sich auf den nächsten Schritt in die Zukunft festzulegen – und dabei von ganzem Herzen dem Gott zu vertrauen, den wir lieben.

(Dieser Text ist zuerst erschienen in der Ausgabe 3/22 des Magazins „Eins“ der Evangelischen Allianz in Deutschland im Zusammenhang mit dem EAD-Zukunftsprozess 2018-2022.)

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