Was wusste Dostojewski über Social Media?

0

Vor einigen Monaten habe ich mir ein Herz gefasst, und ein wirkliches dickes Buch in Angriff genommen: Rock me, Dostojewski von Markus Spieker und David Bühne, zum 200. Geburtstag des russischen Schriftstellers im Fontis-Verlag erschienen. Für mich als Nicht-Geisteswissenschaftler sind das 538 Seiten Horizonterweiterung mit Ansage. Ich spüre die Begeisterung der Autoren für „ihren“ Dostojewski auf jeder Seite, ich bekomme ein paar blinde Flecken meiner persönlichen Bildungsbiographie aufgehellt, und ja – es ist manchmal auch einfach anstrengend, in die Geistesgeschichte und die gesellschaftlichen Themen im zaristischen Russlands des 19. Jahrhunderts hinein zu finden (der vielversprechende Untertitel des Buches hält mich dabei motiviert: „Rock me, Dostojewski – Poet. Prophet. Psychologe. Punk.“).

Was mich an Dostojewski unterwegs  immer wieder fasziniert, ist seine schonungslose Beobachtung menschlichen Verhaltens. Oft genug auch menschlicher Abgründe. Dostojewski beschreibt nicht nur gesellschaftliche Verhältnisse, sondern auch Seelenzustände – und schont sich selbst dabei in keiner Weise. Und manchmal scheint er seiner Zeit tatsächlich weit voraus zu sein. Zum Beispiel in diesem Text aus der Petersburger Chronik, den Dostojewski im Juni 1847 verfasst hat. Ich finde: Über unsere heutige Medien- und Kommunikationskultur, insbesondere in sozialen Netzwerken, hätte er kaum treffender schreiben können:

„Auf Schritt und Tritt sind Gegenwart und Gedanken der heutigen Zeit zu sehen, zu hören und zu spüren. […] Fast jeder hat angefangen, sowohl die Welt als auch andere und sich selbst auszuforschen und zu analysieren. Alle blicken um sich und messen einander mit Augen voller Neugier. Es kommt zu einer Art allgemeiner Beichte. Die Menschen reden und schreiben sich alles vom Herzen, analysieren sich öffentlich, häufig unter Qualen und Schmerzen. Unzählige neue Gesichtspunkte eröffnen sich sogar solchen Leuten, die niemals auch nur ahnten, zu irgendetwas eine eigene Meinung zu besitzen. […] Hinzu kommt das allgemeine Bedürfnis, sich zu artikulieren, und der Wunsch aller, das Gesagte aufzugreifen und zur Kenntnis zu nehmen.“

Hatte Dostojewski eine Zeitmaschine? Ich frage mich, wie viel sich eigentlich seit 1847 wirklich verändert hat.

1 Antwort

Schreibe einen Kommentar