360 Grad

Warum wir eine heilsame Relativierung unserer Wahrheiten brauchen, um die Wirklichkeit Gottes zu erkennen.

Ein Gastbeitrag von Joachim Pomrehn, European School of Culture and Theology.

„360 Grad“ – das ist eine Chiffre, die für den vollständigen Rundblick steht, die volle Einsicht, den Einbezug aller möglichen Perspektiven, die ganze Umsicht, die ganze Rundschau, alle Dimensionen begreifend und in die Tiefe gehend.

„360 Grad“ verschlüsselt in einer Zahl aber auch ein großartiges Gebetsanliegen von Paulus für Christen. Er betet in Epheser 3,18, dass sie…

„in Liebe gewurzelt und gegründet, dazu fähig sind, mit allen Heiligen zu begreifen, was die Breite, die Länge, die Tiefe und die Höhe sei, und die Liebe des Christus zu erkennen, die noch alle Erkenntnis übersteigt, damit wir erfüllt werden bis zur ganzen Fülle Gottes.“

Zugleich verschlüsselt „360 Grad“ die Vision Gottes für diese Welt (Markus 14,24):

„Und dieses Evangelium des Reiches wird gepredigt werden auf dem ganzen Erdkreis, allen Nationen zu einem Zeugnis, und dann wird das Ende kommen.“

So wie das Evangelium um die Welt läuft und alle ihrer Ecken, Winkel und Enden räumlich und zeitlich erreicht, so soll zugleich ein umfassendes Begreifen der Dimensionen des Christus bei allen Heiligen geschehen: In Liebe gewurzelt und gegründet, dazu fähig sein, „mit allen Heiligen zu begreifen, was die Breite, die Länge, die Tiefe und die Höhe sei, und die Liebe des Christus zu erkennen, die noch alle Erkenntnis übersteigt, damit ihr erfüllt werdet bis zur ganzen Fülle Gottes.“

Fangen wir einmal an darüber nachzudenken – und zwar mit einer Analyse der Probleme, die damit zusammenhängen. „360 Grad“, das ist so einfach auch wieder nicht. Da muss sich anscheinend etwas entfalten und wachsen können. Die Linse, die wir brauchen, um diesen Blick zu gewinnen, kann man nicht kaufen. Es hat mit Begreifen zu tun, mit Erkennen, mit Liebe und mit Gottes Geist und einer Fülle. Das klingt ganzheitlich und ist daher schwerlich einseitig zu verwirklichen.

Und ich frage nach dem bescheidenen Beitrag, den christliche Verkündigung und theologische Ausbildung dazu leisten können. Ich glaube, dieser Beitrag besteht darin buchstäblich und übertragen Räume zu öffnen, in denen folgendes geschehen kann. Ich nenne das mal die 360 Grad-Metamorphose. Sie kann sich in drei Schritten vollziehen und beginnt in der Regel so:

Ich und meine 360 Grad

Ich steige auf meinen Turm der Erkenntnis und vollziehe meinen 360° Rundblick und habe alles gesehen… alles beurteilt… alles gelesen… alles gehört… alles getan… alles gesagt… was ich konnte.

Ich darf davon überzeugt sein, meine 360 Grad zu haben. Aber dann sehe ich da hinten eine andere Person auf ihrem Turm der Erkenntnis stehen, und sie macht das gleiche wie ich, aber sie lädt mich ein, herüber zu kommen, auf ihren Turm zu steigen und meinen 360 Grad-Rundblick dort nochmal zu vollziehen. Ich stelle fest, dass ich jetzt erneut alles gesehen aber noch nicht alles erkannt hatte. Alles beurteilt aber noch nicht alles gelernt hatte. Alles gelesen aber noch nicht alles begriffen hatte. Alles gehört aber noch nicht alles verstanden hatte. Alles getan aber noch nicht alles vollbracht hatte. Alles gesagt aber noch nicht alles bewirkt hatte, mit dem, was ich allein konnte.

Fazit: Meine 360 Grad waren noch nicht die 360 Grad und übrigens, als sie mich besuchte auf meinem Turm, erging es ihr ebenso. Ihre 360 Grad waren auch noch nicht die 360 Grad.

Wir und unsere 360 Grad

Wir beide beschließen, unsere beiden 360 Grad-Rundblicke zu vereinen und laden andere ein, von unseren beiden Türmen 360 Grad-Rundblicke zu vollziehen. Danach gründen wir gemeinsam eine 360 Grad-Gemeinde und ein 360 Grad-Theologisches Seminar. Das werden dann die 360 Grad! Gesagt getan. Wir besteigen mit anderen und gegenseitig unsere beiden Türme und festigen eine 360 Grad- Turmgemeinschaft in Gemeinde und Schule, von der wir aus nun alles sehen… alles beurteilen… alles lesen… alles hören… alles tun… alles sagen, was wir können.

Aber dann sehen wir in der Ferne noch andere 360 Grad-Turmgemeinschaften. Mal aus zwei, drei oder vier Türmen bestehend, manche haben sogar haufenweise Türme und Türmchen in ihrer 360 Grad-Gemeinschaft. Wir beschließen rundblickgefestigt zu einer hinüberzugehen und dort unsere 360 Grad-Übungen zu vollziehen. Als wir zurückkehren stellen wir fest, dass wir erneut alles gesehen – aber wir noch nicht alles erkannt hatten. Alles beurteilt aber wir noch nicht alles gelernt hatten, alles gelesen aber wir noch nicht alles begriffen hatten, alles gehört aber wir noch nicht alles verstanden hatten, alles getan aber wir noch nicht alles vollbracht hatten, alles gesagt aber wir noch nicht alles bewirkt hatten, was wir ohne sie konnten.

Fazit: Auch unsere 360 Grad waren noch nicht die 360 Grad. Leider steht der Gegenbesuch von der anderen Turmgemeinschaft immer noch aus. Man munkelt, dass es sicherer sei, lieber nicht auf fremde Türme zu klettern und 360 Grad-Übungen zu machen.

Dennoch wollen wir glauben, dass es eine dritte und letzte Stufe der Metamorphose geben muss:

Wir alle und die 360 Grad

Paulus hat schon damals gewusst, dass diese 360 Grad-Experimente als „ich und meine 360 Grad“ oder „wir und unsere 360 Grad“ nicht viel bringen werden außer Selbstsicherheiten, und dass sie ein mehr oder weniger wertloses Zeugnis für die Welt werden können. Er hat auch gewusst, dass es ein teilweise schmerzhaftes Wachstum braucht, um nur vom „ich und meine 360 Grad“ zum „wir und unsere 360 Grad“ zu kommen. Das hat er durch seinen Streit mit Barnabas vielleicht auch gelernt.

Aber wenn es dann darum geht, zu dem „wir alle und die 360 Grad“ zu gelangen, dann ist das kein Lernziel, dass allein durch menschlich produzierte Lehr- und Lernprozesse verwirklicht werden kann und schon gar nicht von einer Lehr- und Lerngemeinschaft allein. „Wir alle und die 360 Grad“, das heißt…

„…in Liebe gewurzelt und gegründet, dazu fähig sein, mit allen Heiligen zu begreifen, was die Breite, die Länge, die Tiefe und die Höhe sei, und die Liebe des Christus zu erkennen, die noch alle Erkenntnis übersteigt, damit ihr erfüllt werdet bis zur ganzen Fülle Gottes.“

Der Boden, in dem dieses 360 Grad-Begreifen wurzelt und wächst, ist das Gebet und offensichtlich kein Lehrplan. Offensichtlich muss jeder Lehr- und Lernprozess in diese Richtung vom Wirken Gottes erfüllt werden.

Lasst uns als Christen deshalb alle dieses Gebet des Paulus für uns und unsere persönlichen 360 Grad und für unsere 360 Grad-Gemeinschaften beten, damit sich Räume auftun, um mit allen Heiligen zu begreifen. Lasst uns alle dieses Gebet füreinander beten und für unsere Gemeinden und theologischen Ausbildungsstätten beten, damit sich hier noch mehr Räume der Begegnung auftun, in denen Heilige vom „ich“ über das „wir“ zu dem „wir alle“, zu dem „mit allen Heiligen begreifen“ wachsen können. Ich wünsche mir 360 Grad-Gemeinschaften, von denen aus es Wege und Brücken zu anderen 360 Grad-Gemeinschaften gibt und auf denen ein reger Verkehr der Heiligen herrscht.

Vielleicht ist es heute wichtiger als je zuvor dieses gemeinsame wachstümliche Begreifen mit allen anderen Heiligen. Hat nicht Jesus selbst gebetet (Johannes 17,20-22):

„Ich bitte aber nicht für diese allein, sondern auch für die, welche durch ihr Wort an mich glauben werden, auf dass sie alle eins seien, gleichwie du, Vater, in mir und ich in dir; auf dass auch sie in uns eins seien, damit die Welt glaube, dass du mich gesandt hast.“

Das sind die 360 Grad von Jesus: Je mehr wir mit allen Heiligen begreifen, desto glaubwürdiger wird das Jesus-Zeugnis von uns allen für diese Welt.

Joachim Pomrehn

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