Die Macht der Vielen

Die Macht der Vielen ist wieder da.
Nicht mehr im Sinne des marxistischen Klassenkampfes, fein säuberlich eingeteilt in gesellschaftlichen Gruppen je nach ihrem Zugang zu den Produktionsmitteln des Wirtschaftskreislaufs, die gegeneinander um Macht und gesellschaftlichen Einfluß kämpfen. Sondern in einer postmodernen, technisch vernetzten Variante. Immer öfter greifen die Vielen nach Macht und Einfluss – einfach dadurch, dass sie viele sind und damit mediale Präsenz erzwingen. Sei es zum Guten oder zum Schlechten:

  • Arabische Jugendliche und Studenten gehen auf die Straße und stürzen zwei langjährige Despoten in Tunesien und Ägypten. Wer gestern im Nahen Osten noch unumstritten als Portrait in jeder Polizeiwache hing, muss heute zittern ob er morgen noch an der Macht und übermorgen noch am Leben ist.
  • „Wutbürger“ (aussichtsreicher Kandidat zum Unwort des Jahres 2011) gehen in Stuttgart gegen einen Tiefbahnhof auf die Straße und erzwingen ein Mediationsverfahren. Was keinem bürokratisch gegängeltem Bauherren im Privatleben je gelungen ist: Exakt verfasste und durchlaufene Genehmigungsverfahren werden durch die Macht der Vielen beiseite geschoben.
  • In London und anderen britischen Großstädten randalieren Jugendliche in einer schwer durchschaubaren Gemengelage aus Frust, Kriminalität, sozialer Benachteiligung und Lust am Kick. Sie stellen eine über Generationen respektierte Polizei bloß und erzwingen die Verschiebung eines Fussball-Länderspiels.

Die meisten dieser „Bewegungen der Vielen“ werden im Inneren auch nicht durch große geschichtsträchtige Ziele oder eine gemeinsame ideologische Basis zusammengehalten. Oft finden sich die Vielen situativ zusammen, um ein bestimmtes gemeinsames Interesse durchzusetzen. Morgen gibt es dann wieder eine andere Gruppenzusammensetzung für andere Interessen. Willkommen in der Postmoderne.
Ich möchte weder den Wert des jeweiligen Anliegens bewerten, noch die Reinheit der beteiligten Motive. Dennoch habe ich den Eindruck, als schienen die verfassten Hierarchien unserer Welt immer weniger durchsetzungskräftig  – und als nähme die Macht der Vielen immer mehr zu. Noch trauen die meisten dem demokratischen Prinzip zu, dass es gewählte Verantwortungsträger hervorbringt, die im Sinne Aller handeln und dabei die Welt besser machen können. Aber egal ob Energieversorgung, Klimawandel oder Finanzkrise – sie scheinen dabei immer ohnmächtiger zu werden, immer eingeschränkter, und immer weniger im Sinne Aller zu handeln. Da scheint manchem vielleicht die Macht der Vielen erstrebenswerter als die Macht in den Händen von wenigen, die zwar gewählt sind, aber wichtige Entscheidungen entweder im Hinterzimmer aushandeln oder ohne Diskussion als alternativlos bezeichnen oder gar keine mehr zu treffen können scheinen.
Ich finde, die Macht der Vielen allein ist noch keine ausreichende Antwort auf die empfundenen und tatsächlichen Defizite demokratisch gewählter Vertreter. Wenn die Macht in den Händen der Vielen liegt, dann liegt sie noch lange nicht in den Händen Aller. Sondern faktisch nur in den Händen derjenigen, die ihre Interessen laut genug, medienwirksam genug und zur Not auch rücksichtslos genug durchsetzen. Wenn es undemokratisch ist, dass 50 Menschen über das Schicksal von 50 Millionen befinden – ist es dann wirklich demokratisch, wenn es 50.000 tun?
Nur wenn die Macht der Vielen letztlich zur Macht Aller führt, fördert sie Demokratie. Andernfalls regiert wieder nur das Recht der Stärkeren. Und das hat in einer wahren Demokratie nichts verloren.

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