Die Zukunft ist Geschichte

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The Future is History, „die Zukunft ist Geschichte“ – so lautet der bewusst zweideutig formulierte Titel des Buches von Masha Gessen, das die Entwicklung Russlands vom Zerfall der Sowjetunion über die Yelzin-Jahre und die autoritäre Regierung Putins hin zu den heute beobachtbaren Tendenzen einer totalitären Gesellschaft beschreibt.

Gessen, geboren 1967 in Moskau und später emigriert in die USA, wurde u.a. mit dem National Book Award ausgezeichnet, schreibt für The New Yorker und lehrt am Amherst College. The Future is History zeichnet auf rund 500 Seiten die tiefgreifenden politischen Umwälzungen und gesellschaftlichen Brüche in der zerfallenden Sowjetunion und Russland als Nachfolgestaat nach.

Die besondere Perspektive des Buches: Dies geschieht nicht wie im Gesellschaftskunde- oder Geschichtsunterricht entlang von Jahreszahlen und besonderen Ereignissen, sondern in der persönlichen Erfahrungen von vier realen Personen. Alle vier sind noch in der Sowjetunion zur Welt gekommen, haben ihre Teenagerjahre im chaotischen Aufbruch der Ära Yelzin verbracht und haben nach Amtsantritt Putins in einer Atmosphäre immer stärkerer Reglementierung, Kontrolle bis hin zur Repression die Entscheidungen ihres Erwachsenenlebens getroffen.

Alle vier werden in diesen Jahren zu Menschen, die die gesellschaftlichen Entwicklungen zunehmend kritisch sehen (und am Ende auch ins Visier der Staatsmacht geraten); über ihre Eltern, Großeltern oder Freunde lernt man beim Lesen aber auch die Einstellungen anderer Russen zur Entwicklung ihres Landes kennen.  Dieser Schreibstil von Masha Gessen hat mich beeindruckt; er macht aus einer geschichtlichen Abhandlung und politischer Analyse ein Panorama des Alltags in Russland.

Das Buch endet im Jahr 2017, nach der Annexion der Krim und der russischen militärischen Unterstützung für die Separatisten in der Donbass-Region. Aus der heutigen Perspektive nach dem russischen Angriff auf die ganze Ukraine am 24. Februar 2022 empfinde ich manche Schilderung als beinahe gespenstisch präzise Vorboten  heutiger Konfliktlinien.

Ich habe beim Lesen von The Future is History viel gelernt. Über kulturelle Merkmale wie Erziehungs- und Essensgewohnheiten, das  Zusammenleben russischer Paare und Familien, oder wie ganz normale Menschen in unsicheren und überfordernden Zeiten versuchen, ihren Alltag zu gestalten und ihre Träume zu verfolgen. Ich habe gelernt, welche Rolle Kulturszene, universitäre Forschung und auch die russischen Medien in den politischen Umbrüchen gespielt haben und wie alle diese gesellschaftlichen Bereiche unter Putin zunehmend gleichgeschaltet wurden. Ich habe erfahren, wie Oligarchen und die Gesellschaft insgesamt Geld, Macht und Statussymbole betrachtet, und was für ein massiver gesellschaftsweiter Schock der Zusammenbruch der Sowjetunion innerhalb weniger Monate gewesen ist. Und wie eine ganze Gesellschaft schlagartig eine äußere Befreiung von der Herrschaft einer totalitären Ideologie erlebt, danach durch eine chaotische Phase überfordernder Freiheit taumelt, um schließlich für das Versprechen von Ordnung und Stabilität einer autoritären Regierung unter Putin ihre mit der Sowjetunion gescheiterten totalitären Tendenzen neu auferstehen zu sehen.

Trotz – oder gerade wegen – all diesen „Lernerfolgen“ habe ich  The Future is History am Ende sehr nachdenklich zugeklappt. Allzu naiv, oberflächlich, kurzsichtig und selbstbezogen scheinen mir viele Diskussionen hierzulande darüber, durch welche Aktionen und Sanktionen man „Putin Einhalt gebieten“ könne oder wie man einen „Umbruch in Russland“ befördern könne. Denn am Ende lässt Masha Gessen mich bei mit einem Bild von einem Land zurück, in dem die meisten Menschen ihre persönlichen Zukunftsträume an ein zunehmend totalitäres System delegiert haben. Ein Land, das seine Zukunft in der Vergangenheit sucht – und in dem die junge Generation der unter Putin Geborenen mit der zynischen Erkenntnis ringt, dass ihre  Zukunft in diesem System vielleicht schon Geschichte ist.

The Future is History ist 2018 als Taschenbuch auf Englisch erschienen und 2020 in deutscher Übersetzung („Die Zukunft ist Geschichte„) als Taschenbuch im Suhrkamp Verlag.

Für alle, die ein tiefgreifenderes Verständnis von gesellschaftlichen Entwicklungen in Russland suchen, als es Brennpunktsendungen zum Ukraine-Krieg liefern können: Leseempfehlung!

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