Spulen wir die Zeit einmal rückwärts, bis zum Anfang der Kirchengeschichte, ins erste Jahrhundert nach Christus. Die christlichen Gemeinden haben in dieser Zeit mit Blick auf ihre Umstände wenig Grund zum Optimismus. Mit der Steinigung des Stephanus, beschrieben in Apostelgeschichte 7, erlebten die frühen Christen zum ersten Mal am eigenen Leib, dass Nachfolge Jesu auch Verfolgung um seines Namens willen bedeutet. 70 nach Christus wird Jerusalem schließlich von römischen Truppen gestürmt, der jüdische Tempel zerstört. Und mit vielen Juden werden auch die Christen im gesamten Mittelmeerraum zerstreut. Wo sie hinkommen, verbreiten sie ihren Glauben, gründen Gemeinden – und erleben zunehmend staatliche Unterdrückung und Verfolgung. Kein Wunder, dass ihre Vorstellung von der Zukunft von der Erwartung geprägt ist, dass Jesus noch zu ihren Lebzeiten wiederkommen und das Reich Gottes zum Durchbruch bringen wird.
Heute wissen wir, dass sich diese Naherwartung der damaligen Christen nicht erfüllt hat. Stattdessen haben sich die Christen und ihre Gemeinden zunehmend in der Gegenwart eingerichtet, und im Lauf der Jahrhunderte wird die christliche Kirche zu einem dauerhaft bestimmenden Faktor im Leben in Mitteleuropa. Als Teil ihrer Gesellschaft leiden auch Christen unter Erschütterungen wie Kriegen, Krankheiten und Katastrophen – und diese Erfahrungen färben ihr Bild von der Zukunft. Es sind vor allem die apokalyptischen Farben in den biblischen Überlieferungen, die in den Vordergrund treten: Himmel, Hölle und das Strafgericht Gottes. Zukunft, das ist vor allem die geistliche Zukunft der ganzen Welt, das, was „Gott mit uns allen machen wird“.
Mit der anbrechenden Neuzeit differenziert sich das Erleben des Heute und damit auch das Bild vom Morgen. Die Aufklärung fördert das Betrachten der Gegenwart ohne die bis dahin immer selbstverständliche Einordnung in biblische Erzählung. Martin Luther beginnt das Reich Gottes und das Reich der Welt theologisch zu unterscheiden. Die geistliche Zukunftserwartung der Christen beginnt sich abzuspalten von der weltlichen Zukunftserwartung ihrer Umwelt.
Und sie beginnt zu einer individuellen Zukunftsvorstellung zu werden. Für den Menschen im Mittelalter war es unvorstellbar, eigenständig einen Wohnort, eine Religion oder einen Ehepartner zu wählen. Aber die Moderne stellt all das in die Wahlfreiheit des Menschen. So wie die Gegenwart wird auch die Zukunft zu einer Frage der Entscheidungsfreiheit des Einzelnen. Es ist nicht mehr die ganze Gesellschaft, die kollektiv vor der Frage nach Himmel und Hölle steht, sondern der Einzelne. Es ist diese Betonung von individueller Frömmigkeit und individueller Zukunft, die die christlichen Erweckungsbewegungen des 18. und 19. Jahrhunderts prägt.
Im 19. Jahrhundert, der Zeit Victor Hugos, bestimmen Industrialisierung und Kolonialismus die Gegenwart. Kaum ein Fachgebiet, in dem nicht wissenschaftlich geforscht wird. Kaum ein Flecken Erde, der nicht kartographiert wird. Und wieder prägt die Gegenwart das Bild von der Zukunft. Fast euphorisch sind die Aussichten, alles scheint machbar, erreichbar. Auch viele Christen blicken optimistisch in die Zukunft, es ist für protestantische Christen das Jahrhundert der Weltmission. Das Reich Gottes, das Christen im ersten Jahrhundert als baldige Erlösung aus ihrer bedrückenden Gegenwart erwartet hatten – scheint fast so etwas wie ein greifbarer, letzter Schritt eines allumfassenden Fortschritts zu sein.
Wir wissen heute, wie die Geschichte weiterging. Der Optimismus des 19. Jahrhunderts endet im Zivilisationsbruch zweier Weltkriege mit einem verwüsteten Kontinent und rund 75 Millionen Toten. Das britische Empire mit seinem Sendungsbewusstsein für Fortschritt und christliche Mission ist am Ende. Der moderne Staat Israel wird gegründet, für manche Christen der „Zeiger an der Weltenuhr“. Erfüllen sich darin biblische Prophetien? Stehen das Ende der Welt und die Wiederkunft Jesu jetzt unmittelbar bevor?
Diese kurze Tour durch die Kirchengeschichte führt mir vor Augen, dass unser Bild von der Zukunft immer von der Gegenwart geprägt ist, in der wir leben. Ich glaube, dass auch Christen und die christliche Theologie kein Bild von der Zukunft malen können, das frei wäre von solchen Färbungen.
Gleichzeitig bin ich als Christ zutiefst davon überzeugt, dass die Zukunft nicht einfach nur das Resultat menschlicher Vorstellungen und gesellschaftlicher Entwicklungen ist. Denn die Überlieferungen des Alten und Neuen Testaments beschreiben nicht nur das Reden und Wirken Gottes in der Vergangenheit, sondern in ihnen sind auch klare Orientierungspunkte für die Zukunft verankert. Wenn wir diese Orientierungspunkte für die Zukunft betrachten, können wir das nur als Kinder unserer Zeit tun, und unser Bild von der Zukunft wird entsprechend gefärbt sein. Aber die Zukunft Gottes selbst ist alles andere als beliebig, denn sie ist gegründet in der Person und in den Zusagen des lebendigen Gottes, der außerhalb unserer Zeit und der Grenzen unserer menschlichen Erkenntnis steht.
Bevor ich zu diesen Orientierungspunkten komme, müssen wir uns noch durch eine Schicht hindurch graben – nämlich durch die Vorstellungen von Zeit und Zukunft im hebräischen Denken der Autoren des Alten und Neuen Testaments.