Hanau

Viel wird in diesen Stunden geschrieben zum Gewaltverbrechen von Hanau. Über Trauer und Erschütterung, Opfer und Täter, die Wechselwirkung von Worten und Taten. Vielem davon kann ich mich nur von Herzen anschließen.

Ich denke: Etwas ist zunehmend ausgerastet in unserer Gesellschaft. Unsere Zivilisiertheit, auf die wir uns gerade in Deutschland mit Blick auf „früher“ oder „woanders“ oft so viel einbilden, erweist sich  weniger als unerschütterliches Fundament, sondern viel mehr als dünne Lackschicht. Darunter: Der Mensch, wie er vermutlich schon immer war. Niemals ganz frei von Angst, Wut, Stolz, Neid. Hin- und hergerissen zwischen der vermeintlichen Sicherheit, dazu zu gehören zum „Wir“ und der vermeintlichen Überlegenheit, nicht so zu sein wie „Die“.

Auch ich bin nicht frei davon. Auch als Christ nicht. Weil ich in dieser Welt lebe, als Teilhaber an dieser Gesellschaft, mittendrin. Weil auch ich mich in unzähligen Spannungsfeldern und Streitthemen wiederfinde zwischen „Wir“ und „Die“. Dabei müsste ich es als Christ eigentlich besser wissen. Könnte eigentlich anders leben. Denn die Gute Nachricht von Jesus Christus, meinem Befreier, dem ich folge, kennt kein „Wir“ und „Die“. Jesus hat seinen Nachfolgern die Augen dafür geöffnet, dass es einen Gott gibt, der in sich ein „Wir“ ist – und der alle Menschen aus ihrem „Die“ befreien und an sein Herz ziehen will. 

Und ich stelle fest: Je näher ich an dieses Herz Gottes gezogen werde, desto geringer wird mein Überlegenheitsgefühl gegenüber anderen Menschen. Denn der Gott, der mich liebt, weicht sie auf und hebt sie auf, meine Wertunterschiede zwischen „Uns“ und „Denen“. Zwischen Jungen und Alten. Zwischen Männer und Frauen. Zwischen Gutbürgerlichen und Ordnungsgegnern. Zwischen Weltbürgern und Heimatverbundenen, Inländern und Ausländern, Alteingesessenen und Zugereisten… zwischen uns allen.

Nein, diese christliche Perspektive ist keine idealistisch-süßliche Soße, die die harte Realität leichter erträglich machen soll. Christen wissen sehr wohl, dass wir in einer pluralistischen Gesellschaft den besten Weg in die Zukunft immer wieder leidenschaftlich diskutieren und neu aushandeln müssen. Christen wissen sehr wohl, dass dabei immer wieder auch Wege entstehen , die nicht zu ihren Wertvorstellungen passen. Christen wissen sehr wohl, dass in einer gefallenen Welt Menschen und ihrem Verhalten klare Grenzen gesetzt werden müssen. Christen wissen sehr wohl, wie dünn die Lackschicht ist über Angst, Wut, Stolz und Neid – sie wissen das auch nach einem ehrlichen Blick in den Spiegel.

Aber Christen könnten, sollten, müssten eigentlich wissen, dass man die Erde nicht verloren gibt, nur weil sie noch nicht der Himmel ist. Christen könnten, sollten, müssten eigentlich anders leben als Angst, Wut, Stolz oder Neid gewinnen zu lassen. Christen könnten, sollten, müssten eigentlich wissen, dass Gott kein „Wir“ und „Die“ kennt.

So verstanden sind Christen eine Chance für diese Gesellschaft. Vielleicht braucht es genau die, die wissen, dass sie in dieser Welt nur auf der Durchreise sind, um sich in unserer zunehmend zerrissenen Gesellschaft glaubwürdig für Versöhnung einzusetzen. 

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