Wokeness und der Kampf um die vorletzten Dinge

War Jesus woke?

Zugegeben – dieseFrage soll provozieren. Vor allem zum gepflegten Nachdenken über ein kleines Wort und die großen Wellen, die es in manchen Kreisen schlägt. Nötig ist das, denn viele Diskussionen, in denen woke als Kampfbegriff oder „woke Themen“ als Signale für die eigene oder vermeintlich gegnerische Seite verwendet werden, sind alles – nur noch gepflegt und nachdenklich. Hier also mein persönliches Schärflein gepflegten Nachdenkens zum Thema.

Die Debatte nach dem Mord an Charlie Kirk – in den USA, aber auch hierzulande und auch bis hinein in manche christliche Kreise – zeigt, wie schnell politische Ansichten zu moralischen Fronten und identitären Lagerkämpfen werden können. Diese Dynamik scheint verführerisch zu sein. Auch für Menschen mit moralischem Sendungsbewusstsein. Vielleicht gerade für sie. Auch in Deutschland – auch wenn die Meinungslandschaft (und auch die christliche „Szene“) in Deutschland anders tickt als in den USA, noch, zum Glück.

Dabei beginnt das Wörtchen „woke“ wie so vieles im Kosmos moralisierter und moralisierender Auseinandersetzungen mit einer guten Absicht. Denn ursprünglich bezeichnete woke als Kunstwort in Anlehnung an awake („hellwach“) eine bewusste Wachsamkeit gegenüber latenten, systemtischen sozialen Ungerechtigkeiten, die im Erleben vieler Afro-Amerikaner auch Jahrzehnte nach den Durchbrüchen der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung in den 1960er Jahren immer noch nicht vollständig überwunden sind.

In relativ kurzer Zeit aber wurde „woke“ aber zu einer Art Containerbegriff: Für die einen als Bündelung aller progressiven politischen Anliegen, für die anderen als gesellschaftspolitischen Endgegner, der alles umfasst, was die Wertewelt bedroht. „Woke“ ist also längst zu einer Abzeichen an der Uniform geworden, zu einer Freund-Feind-Kennung wie bei Kampfflugzeugen: Bist du woke oder anti-woke, für oder gegen mich, auf meiner Seite oder auf der der anderen, Freund oder Feind?

Der russisch-britischen Polit-Philosophen Vlad Vexler hat mir geholfen zu verstehen, welche Zahnräder ineinander greifen, die diese überraschend wuchtige öffentliche Auseinandersetzung  antreiben, die aus einem doch offensichtlich berechtigten Anliegen (Aufmerksamkeit gegen Diskriminierung) erwachsen ist. Vexler macht die folgende Verschiebungskette auf:

  1. Menschen vertreten naturgemäß verschiedene Ansichten in politischen Sachfragen.
  2. Um ihren politischen Ansichten in der öffentlichen, medialen und sozial-medialen Diskussion mehr Durchsetzungskraft zu verleihen, verschieben sie ihre Positionen erstens aus dem Bereich der Politik in den Bereich der Moral (die im Gegensatz zu politischen Positionen vordergründig nicht mehr begründungspflichtig ist).
  3. Danach findet die zweite Verschiebung statt: Die Vorstellung wird an den Menschen gebunden, der sich die Vorstellung vorstellt, aus einem persönlichen moralischen Werturteil wird eine Identitätsfrage der betreffenden Person. Du bist im Zweifelsfall nicht nur gegen meine politische Ansicht, du bist nicht nur moralisch fragwürdig unterwegs – du bist gegen mich als Person.
  4. Und in einer letzten Verschiebung hin zum gesellschaftlichen Konfliktpotential wird gesellschaftlichen Institutionen die Aufgabe zugemessen, diese Identitätsfragen zu beachten und zu bearbeiten. Meine Universität, mein Arbeitgeber, meine Regierung – sie alle sind aufgerufen, sich um mein politisches Anliegen zu kümmern, das für mich längst zur Identitätsfrage geworden ist.

Anschauungsmaterial für diese Kette gibt es zuhauf, von der institutionellen Betreuung von Identitätsfragen in Universitäten, die mit akademischer Bildung eher wenig zu tun haben, bis zu Anforderungen an die „Haltung“ von Unternehmen, die mit wirtschaftlicher Wertschöpfung und rechtlicher Compliance eher wenig zu tun haben.

Dabei finde ich viele politischen Ansichten am Beginn dieser Kette oft durchaus ehrenhaft und würde jedem zugestehen, sie zu vertreten – gar keine Frage. Aber diese Kette besitzt eben auch eine Verführungskraft. Sie ermöglicht es Aktivisten jeglicher Couleur, aus persönlichen politischen Ansichten gesellschaftliche Realität für alle zu schmieden, und zwar unter Abkürzung oder Umgehung der Überzeugung Andersdenkender, der Organisation politischer Mehrheiten oder der Einhaltung rechtsstaatlicher Prozesse.

Und so kann aus einem ehrenhaften Anliegen Schaden für eine pluralistische Gesellschaft entstehen, eine Infragestellung des Rechtsstaats bis hin zu einerBeschädigung der Demokratie. Und wenn Christen in diese Kette mit einsteigen, wird auch das Evangelium zunehmend unkenntlich für alle, die nicht von vornherein mit ihnen inhaltlich an einem Strang ziehen. Denn Freiheit – da gebe ich Rosa Luxemburg recht – ist immer auch die Freiheit der Andersdenkenden, und – da gebe ich der christlichen Ethik recht – der Zweck heiligt nie die Mittel.

Als Christ möchte ich an Freiheit interessiert sein, denn der christliche Glaube ist ein freiheitlicher Glaube. An der Freiheit, meinen eigenen Glauben zu leben – und an der Freiheit Andersdenkender, anders leben zu wollen.

Als Christ möchte ich an Würde interessiert sein, denn ich glaube an einen Gott, der jedem Menschen seine Ebenbildlichkeit mit auf den Weg durch eine gefallene Schöpfung gegeben hat. An der Würde derer, die so sind wie ich selbst – und an der Würde derer, die meinen Gott ignorieren, lächerlich machen oder verachten.

Als Christ möchte ich an Fairness interessiert sein, denn ich folge einem Herrn, der die Person nicht ansieht und mich warnt vor Vorteilsnahme und davor, göttliche Träume für diese Welt mit menschlichen Machtmitteln umsetzen zu wollen. Fairness gegenüber politischen Ansichten, die ich von meinem Glauben ableite – und Fairness gegenüber politischen Ansichten, die meinem Glauben völlig zuwiderlaufen.

Um es mit Dietrich Bonhoeffer zu sagen: Politische Anliegen – und seien sie noch so drängend und wichtig – sind immer vorletzte Wirklichkeit; nur Christus ist letzte Autorität.

War Jesus woke?

Ich denke, er war und ist hellwach und aufmerksam, dass wir einander in Freiheit, Würde und Fairness begegnen. Feinde zu lieben statt sie erbittert zu bekämpfen. Und da, wo wir Einfluss auf unsere Gesellschaft ausüben, dies im Namen der Freiheit, Würde und Fairness aller zu tun.

Podcast-Tipp
Wegfinder Folge 106: Kulturkampf – Über Märtyrer, Medien, Macht und Religion

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