Gleiches Recht für alle! So lautet ein wichtiger Grundpfeiler des modernen Rechtsstaats. Alle Menschen sind Recht und Gesetz in gleicher Weise unterworfen, unabhängig von ihrem Ansehen bei Anderen, ihrer Machtposition in der Gesellschaft und ihrem persönlichen Besitz.
Machen wir uns nichts vor – seit es uns Menschen gibt, versuchen wir gut dazustehen, zu behalten was wir haben, uns einen Vorteil zu verschaffen. Wer bekommt das größte Stück vom Kuchen ab, die meiste Aufmerksamkeit der Lehrerin, die Beförderung im Büro? Wer fährt das bessere Auto, bucht den schöneren Urlaub, hat die attraktivere Figur?
Zum Problem wird mein Streben nach „mehr“ und „besser“ dann, wenn es mit dem Streben meines Mitmenschen kollidiert. Dann ist Konfliktlösung angesagt: Wer ist im Recht? Was ist richtig?
Und genau hier greift das Prinzip „Gleiches Recht für alle“. Es bedeutet: Niemand hat das Recht von vornherein auf seiner Seite. Niemand hat das Recht-Haben von vornherein gepachtet. Wer angesehen ist, mächtig und reich – der kann dennoch im Unrecht sein gegenüber seinem Nachbarn.
„Gleiches Recht für alle“ – dieser Grundsatz ist viel älter als unser moderner Rechtsstaat. Wir finden ihn bereits im Alten Testament, niedergelegt in einer Zeit, in der Mose das Volk Israel aus der Sklaverei in Ägypten heraus und durch die Wüste ins gelobte Land Kanaan führte. Und Mose musste organisieren, wie die Israeliten ihre Konflikte lösen sollten: Wer sollte im Zweifelsfall entscheiden und das Sagen haben – der Angesehene? Der Einflussreiche? Der Wohlhabende?
Nein, sagte Mose, der Anführer des Volkes und Prophet Gottes. So soll es bei uns nicht sein. Und er ernannte unter den Israeliten einige zu Richtern, die die Streitigkeiten ihrer Mitmenschen regeln und schlichten sollten. Und diesen Richtern gab er das Prinzip mit auf den Weg: „Gleiches Recht für alle!“.
Wir können das nachlesen in 5. Mose 1 ab Vers 16, wo Mose am Ende seines Lebens Rückblick hält über seine Zeit als Anführer Israels. Dort wird Mose wie folgt zitiert:
Ich gebot euren Richtern zu jener Zeit und sprach: Hört eure Brüder an und richtet recht zwischen jedermann und seinem Bruder und dem Fremdling bei ihm. Ihr sollt beim Richten nicht die Person ansehen, sondern sollt den Kleinen hören wie den Großen und vor niemand euch scheuen…
Ich finde das revolutionär: Im Volk Israel soll nicht das Recht des Stärkeren herrschen, sondern die Stärke des Rechts. Ein Recht, das gleichermaßen für alle zu gelten hatte, für die „Kleinen“ wie für die „Großen“. Also für die Armen und Machtlosen genauso wie für die Reichen und Angesehenen der damaligen Zeit. Und auch für die Ausländer – die Fremdlinge – genauso wie für die Israeliten selbst.
Aber noch revolutionärer finde ich die Begründung von Mose für diesen Grundsatz. In voller Länge lautet Vers 17:
Ihr sollt beim Richten nicht die Person ansehen, sondern sollt den Kleinen hören wie den Großen und vor niemand euch scheuen… denn das Gericht ist Gottes.
„Gleiches Recht für alle“ – das ist für Mose eine Konsequenz aus der Tatsache, dass allein der Schöpfer seine Geschöpfe fair und gerecht beurteilen kann. Dass das Schaffen von Recht und Gerechtigkeit durch Menschen in dieser Welt daher immer nur vorläufig sein kann. Gott ist der, der Menschen richtig sieht und letztendlich Recht spricht.
Und weil dieser Gott sich nicht durch Ansehen, Macht und Reichtum beeindrucken lässt – deshalb sollen es die Richter der Israeliten auch nicht tun. Und wir heute auch nicht.
Und wer weiß – dass Gott allein Menschen richtig beurteilt und Recht spricht, dieses Bewusstsein würde auch uns heute vielleicht in so manchen Konflikten weiterhelfen.
(erschienen in der Sendereihe Wort zum Tag bei ERF Plus)