Vorsicht, Gewissheit!

„Ich habe immer geglaubt, das Gehirn sei das wundervollste Organ in meinem  Körper“, sagte der amerikanische Comedian Emo Philips einmal. „Aber dann ist mir klar geworden, wer mir das eigentlich gesagt hat“.

Soll heißen: Trau deiner eigenen Gewissheit selbst nicht allzu sehr.

Das soll kein Plädoyer sein für ständigen Zweifel oder Zynismus als Grundhaltung des Lebens – im Gegenteil. Aber oft sind nicht  diejenigen das Problem, die zu viel zweifeln. Sondern die, die es zu wenig tun. „Der Weg zur Hölle ist mit guten Vorsätzen gepflastert“, weiß ein Sprichwort. Ich würde gerne ergänzen: „…und mit zu festen Gewissheiten“.

Und das ist nicht nur der Physiker in mir, der die wissenschaftliche Methode verinnerlicht hat (jede Theorie könnte falsch sein und steht nur solange fest, bis sie widerlegt ist). Sondern das ist auch das Ergebnis psychologischer Forschung zur Bildung von und dem Festhalten an gedanklichen Gewissheiten.

Ein Experiment mit besonders absurden Ergebnissen ist das folgende (gefunden habe ich das im auch ansonsten rundum empfehlenswerten Buch „Geben und Nehmen“ von Adam Grant):

Zufällig ausgewählte Probanden werden nacheinander einzeln in einen Raum geführt und an einen Tisch gesetzt. Auf dem Tisch befinden sich mehrere Knöpfe und eine Lampe. Die Proband bekommen die Aufgabe herauszufinden, wie sie die Knöpfe drücken müssen, um innerhalb von 30 Minuten die Lampe möglichst oft zum Leuchten zu bringen.

Es passiert zu Beginn genau das, was man erwarten würde: Die Probanden drücken in zufälliger Reihenfolge auf den Knöpfen herum, bis die Lampe zum ersten Mal leuchtet. Anschließend versuchen sie über den Rest der Zeit, die eine entscheidende Sequenz zu finden, die zum Leuchten der Lampe geführt haben muss. Und während die Lampe dunkel bleibt, probieren die Teilnehmenden zunehmend kompliziertere und längere Sequenzen von Knopfdrücken aus in der Hoffnung, dem verborgenen Zusammenhang zwischen Knöpfen und Lampe auf die Schliche zu kommen. Sie fangen an, die Pausenzeiten zwischen zwei Knopfdrücken zu stoppen und in ihr Muster einzubeziehen. Vielleicht reagiert die Lampe auch darauf, wie ich beim Drücken auf dem Stuhl sitze? Oder wohin ich meine Füße stelle? Ungefähr nach der Hälfte der Zeit sind die meisten Probanden davon überzeugt, dass sie das Rätsel so gut wie gelöst haben. Dass sie die geheime Reihenfolge von Knopfrücken, Sitzposition, Armbewegungen und Fußstellungen so gut wie entdeckt haben, mit der sie die Lampe zum Leuchten bringen können.

Der Clou an diesem psychologischen Experiment ist: Die Lampe leuchtet völlig zufallsgesteuert. Es ist völlig egal, in welcher Reihenfolge und mit welchem Timing die Probanden auf die Knöpfe drücken und welche Verrenkungen sie mit ihren Armen und Beinen vollführen.  Jeder Teilnehmer und jede Teilnehmerin an dem Experiment verlässt den Raum in der festen Gewissheit, die perfekte Lösung für das Rätsel gefunden zu haben. Diese Lösungen sind so verschieden, wie die Menschen verschieden sind (eine Teilnehmerin war felsenfest davon überzeugt, sie müsste zwischen zwei Knopfdrücken ein paar Mal die Zimmerdecke berühren, um die Lampe am Ende zum Leuchten zu bringen).

Dieses Experiment belegt, wie bereitwillig wir als Menschen Dinge zu glauben beginnen, die nicht real sind. Weil wir sie glauben wollen. Weil wir meinen, eine Bedeutung in etwas entdeckt zu haben, was in Wirklichkeit nur Zufall ist. Und je stärker unsere Gewissheit ist, desto weiter führt sie uns aufs Glatteis. Unser Gehirn ist eine „Sinn-Maschine“: So wie die Völker der Antike Sagengestalten im Sternenhimmel sahen oder manche Menschen Tiere in den Wolken erkennen, so versucht unser Gehirn aus dem, was wir vorfinden, Bedeutung zu konstruieren. Erklärung. Sinn.

Diese Fähigkeit ist der Motor für Philosophie, Religion genauso wie für Legendenbildung und Verschwörungstheorien. Sie hat uns weit nach vorne gebracht, aber Einzelne oder Gruppen oft auch weit ab vom Schuss. Gewissheit ist eben noch kein Gütesiegel; man kann absolut überzeugt sein – und dennoch völlig daneben liegen (das ist übrigens einer der Hauptkonflikte, die Jesus im Neuen Testament immer wieder mit den Pharisäern seiner Zeit aneinander geraten lässt).

„Ich könnte mich irren“ – das ist für mich ein hilfreicher Glaubenssatz. Sicher sollte man ihn sich im Alltag nicht alle 30 Minuten sagen. Aber ab und zu vielleicht schon. Und besonders dann, wenn man meint es diesmal aber ganz genau zu wissen.

Vorsicht vor zu viel Gewissheit!

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