Viele beklagen eine zunehmende gesellschaftliche Polarisierung. In der Politik, zwischen gesellschaftlichen Gruppen, in so genannten „sozialen“ Medien sowieso. Und auch christliche Kirchen, Gemeinden und Gemeinschaften bewegt das Thema. Wie können sich Menschen in einem sozialen Gefüge positionieren und profilieren – ohne dass übergeordnete Werte und der Zusammenhalt der Gruppe gleich mit verloren geht?
Mich bewegt dieses Thema schon seit einigen Jahren; als politisch interessierter Bürger genauso wie als christlicher Leiter und als Verkündiger der besten Botschaft der Welt, die doch – eigentlich – keinen Spielraum lässt für die pauschale Ausgrenzung von Menschen mit Überzeugungen und Lebensentscheidungen, die von den eigenen abweichen. Vor einiger Zeit nun habe ich an einem interessanten Experiment zur Polarisierung im christlichen Kontext teilgenommen, das mir eine neue Vermutung zum Thema nahegelegt hat.
Das Experiment ging so: Wir waren als Leitungsverantwortliche von christlichen Non Profit-Organisationen, Dach- und Gemeindeverbänden und kleineren Initiativen zusammen, etwa 40 Personen. Über eine Live Online-Umfrage per mentimeter wurden zwei Haltungen in der Gruppe abgefragt:
- Wie wichtig findest du es, mit anderen Christen als Einheit zusammen zu arbeiten? Und wie sehr setzt du dich für diese Zusammenarbeit ein?
- Wie wichtig findest du es, Grenzen mit Blick auf die Einheit und Zusammenarbeit zu ziehen? Und wie sehr setzt du dich für diese Grenzziehung ein?
Im ersten Schritt wurde der Durchschnitt der Gruppenbewertung eingeblendet:
Soweit keine Überraschung: „Mit anderen Christen als Einheit zusammenzuarbeiten“ ist für die meisten Teilnehmerinnen und Teilnehmer wichtig, und sie setzen sich auch dafür ein. Der Einheit bzw. Zusammenarbeit Grenzen zu ziehen, ist für die meisten weniger wichtig, und sie setzen sich auch weniger stark dafür ein.
In den nächsten beiden Schritten wurden neben der durchschnittlichen Bewertung (dem blauen bzw. roten Punkt) die jeweilige Bandbreite der Antworten eingeblendet.
Zuerst – Schritt zwei – die Bandbreite der Antworten zur Wichtigkeit der Einheit und Zusammenarbeit:
Es verwundert mich nicht, dass die Einschätzungen der einzelnen Teilnehmer vom Durchschnittspunkt abweichen – das ist statistisch bedingt und das hätte ich auch nicht anders erwartet. Was mich allerdings überrascht und ziemlich nachdenklich zurück gelassen hat, ist der dritte Schritt – die Bandbreite der Antworten auf die zweite Frage nach der Wichtigkeit, der Einheit und der Zusammenarbeit mit anderen Christen Grenzen zu ziehen:
Bei der Frage nach der Abgrenzung gehen die Einschätzungen offensichtlich viel weiter auseinander als bei der Frage nach der Zusammenarbeit.
In meinen Augen muss man daraus den Schluß ziehen: Polarisierung im christlichen Kontext entsteht nicht so sehr aus einem Dissenz in der Frage, wofür man gemeinsam eintreten sollte. Polarisierung entsteht viel mehr aus einem Dissenz in der Frage, wogegen man sich abgrenzen sollte.
Und ich vermute, das ist nicht nur im christlichen Kontext so. In einem Politik-Podcast habe ich neulich den Satz gehört: „Während der Zeit der Ampelregierung konnte ein Christian Lindner seinen Wählern vor der Kamera versprechen was er wollte – solange eine Ricarda Lang neben ihm stand, konnten sie es einfach nicht ertragen.“ Das ist für mich das Pendant zur obigen dritten Grafik: Das gemeinsame Eintreten für ist als theoretische Richtigkeit akzeptiert, aber in der Frage, gegen wen oder was man sich abgrenzen sollte, spielt die eigentliche Musik. Dort entstehen echten Emotionen. Von dort werden polarisierende Konflikte tatsächlich gespeist.
Denkt man dieses Bild zu Ende, entsteht Polarisierung nicht durch einen Zielkonflikt (d.h. dass eine Gruppe sich nicht auf eine gemeinsame Zukunft einigen könnte). Sondern durch einen Feindbildkonflikt (d.h. dass eine Gruppe sich nicht darauf einigen kann, gegen wen man sich auf jeden Fall abgrenzen sollte).
Beim Thema „Feindbild“ müssten Christinnen und Christen doch eigentlich ganz still werden. Folgen wir nicht einem, der uns vorgelebt, aufgerufen und befähigt hat, seine Feinde zu lieben und für sie zu beten und zu hoffen?
Wie wär’s, wenn wir lernen, uns engagiert und kompetent über Zielkonflikte auseinanderzusetzen – und unsere Identität von dieser Haltung als übergeordnetem Wert her zu beziehen, anstatt aus Feindbildkonflikten?