Agile Leadership: Selbstorganisation

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Dieser Post ist Teil einer Toolbox für Agile Leadership für Führung in unserer heutigen „VUCA-Welt“ (VUCA = Volatility, Uncertainty, Complexity, Ambiguity), in der Berechenbarkeit, Kontrolle und Stabilität wie Relikte aus der Vergangenheit wirken. Jede Welt braucht und erzeugt eine passende Führungskultur. Für die VUCA Welt ist das Agile Führung (Agile Leadership).

Agile Führungsinstrumente werden umso besser funktionieren, je mehr die Organisation insgesamt von einem agilen Mindset geprägt ist (bei ERF – der Sinnsender sind wir gerade in der Transformation in eine agile Organisation). Aber du kannst die Führungsinstrumente in dieser Toolbox auch einzeln anwenden und damit auch in einer klassischen Organisation ein Stück neue, agile Kultur säen. 


In jeder Organisation gibt es zwei Alternativen, um den Alltag zu ordnen: Regeln und Kultur. Das gilt für deine Firma im Industriegebiet genauso wie für die Bankfiliale in der Innenstadt, deine Kirchengemeinde oder die Bürgerinitiative im Nachbarviertel.

Regeln sind das, was ausdrücklich von oben vorgegeben wird. Was von Chefetagen oder Compliance-Abteilungen formuliert und dann per Betriebsversammlung, Rundschreiben oder E-Mail-Verteiler weitergegeben wird. Regeln werden von einer Person oder einem Gremium mit der richtigen Zuständigkeit verkündet und erzeugen einen Zustand.

Zumindest theoretisch: Ich halte mich an Regeln, weil ich sie einsehe und/oder weil ich die Zuständigkeit respektiere und/oder weil ich Angst vor der Sanktionierung habe, falls ich sie nicht einhalte. Einer dieser drei Faktoren reicht. Meine Einsicht in eine Regel ist wünschenswert, aber nicht notwendig: „Weil ich es sage“ mag zwar schlechte Pädagogik sein, funktioniert aber immer noch überall da, wo die Regel den Rückenwind eines gewissen Machtgefälles genießt. Das bedeutet: Wer mit Regeln arbeiten will, braucht auch Kontrolle. Und notfalls Sanktionen. Regeln setzen Grenzen, ein Limit, einen Rahmen – und im besten Fall schlägt keiner über die Stränge. Mehr ist mit Regeln nicht zu holen.

Eins aber können Regeln eher schlecht: Menschen zum Mitdenken und zur Mitverantwortung inspirieren. Dazu, einen eigenen Beitrag zu leisten, der die geregelten Zustände für alle besser macht – auch wenn man selbst nicht ausdrücklich zuständig ist. In dieser Situation schlägt die Stunde der Kultur.

Kultur ist das, was alle tun. Die Art und Weise, wie wir das hier machen. Ohne ausdrückliche Zuständigkeit. Ohne Kontrolleur. Oft ohne dass es jemand aufgeschrieben hat. Kultur ist Selbstorganisation. Kultur sind Normen und Verhaltensweisen, die einer sich vom anderen abschaut. Sie kann hilfreich sein oder toxisch, angemessen oder kontraproduktiv. Es dauert eine halbe Ewigkeit, sie zu verändern. Sie erfordert Engagement des Einzelnen und Vorbilder. Wenn sie stinkt, stinkt sie meist vom Kopfe her. Sie ist aufwändiger zu erzeugen, langsamer zu verändern, sie ist immer ein wenig chaotisch und sie bedeutet für Führungskräfte immer auch ein bisschen Kontrollverlust.

Aber wenn es gut läuft, hilft Kultur einer Organisation, sich an eine dynamisch verändernde Umwelt anzupassen. Weil viele mitdenken. Und mitwirken. Und mitverantworten. Weil es nicht nur an einer Handvoll von „Zuständigen“ liegt, die Zustände so zu verändern, wie es für die Organisation am besten ist.

Das funktioniert nur, wenn es ein gemeinsames Bild gibt, was für die Organisation denn am besten ist. Gemeinsame Werte. Eine gemeinsame Vision. Selbstorganisation durch Kultur ist also keineswegs Abwesenheit von Führung, sondern die Selbstverständlichkeit von Führung durch die vielen auf der Basis eines gemeinsamen Commitments.

Die Sache mit dem Parkplatz ist für mich eine prima Illustration dieses Prinzips. Bei ERF – der Sinnsender haben wir uns im November 2023 auf den Weg einer agilen Transformation gemacht. Dabei geht es uns darum, als Organisation in einer wilden Welt voller gravierender Veränderungen schneller, unkomplizierter und handlungsfähiger zu werden. Ganz ungeplant wurde nach einigen Monaten unser neuer Parkplatz vor unserem Medienhaus zu einem praktischen Gleichnis für Selbstorganisation.

Beim Anlegen des Parkplatzes gab es eine Zeitverzögerung bei der Aufbringung der weißen Markierungen der einzelnen Stellplätze. Folglich mussten die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter am ersten Tag nach der Öffnung des neuen Parkplatzes ohne Orientierung durch irgendwelche Regeln parken. Die Folge:

Wildes Parken ohne ausreichende Abstände, Verschwendung von Platz! Es passten weniger Autos auf den Parkplatz als eigentlich möglich gewesen wären. Als Organisation sind wir unter unseren Möglichkeiten geblieben, und klar: So darf das nicht bleiben!

Was ist in so einer Situation zu tun? An der Parkplatzeinfahrt ein Schild mit Regeln aufstellen? Einen Parkwächter einstellen, der die Leute einweist? Fahrspuren und Stellplätze markieren? Das wäre der Lösungsansatz „Regeln“. Wie oft greifen wir als Führungskräfte instinktiv zu diesem Lösungsansatz?

Zum Glück haben wir nichts dergleichen getan, denn die Erleuchtung kam für mich an Tag zwei, an dem sich auf unserem Parkplatz schlagartig ein anderes Bild bot:

Alle Autos standen in Reih‘ und Glied. Optimale Platzausnutzung. Niemand hatte eine Regel verkündet, aber alle hatten das große gemeinsame Bild wahrgenommen und gemerkt: So geht’s nicht. Wir müssen was ändern. Und alle änderten ihr individuelles Parkverhalten, über Nacht. Alle fühlten sich verantwortlich, den Zustand zu verändern. Alle fühlten sich zuständig. Alle dachten mit und wirkten mit. Es entstand eine „Parkplatzkultur“. Ohne Ansage. Ohne Regel. Ohne Parkwächter. Ohne weiße Markierungen.

Selbstorganisation in einer agilen Organisation bedeutet nicht, dass jeder einach macht, wie er denkt. Sondern das Arbeiten an einem gemeinsamen Problembewusstsein und einer gemeinsamen Problemlösungskompetenz. Letztlich an einer gemeinsamen Kultur.

Das geht in fast allen Fällen langsamer als bei unserem Parkplatz – leider. Und es ist auch anstrengender: Es erfordert größere Souveränität, Beharrlichkeit, Geduld und Bereitschaft zum Kontrollverlust bei Führungskräften. Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter brauchen mehr Mut, Eigenverantwortung, Selbstdisziplin und das Vertrauen, dass ihr Mitwirken auf Basis des erarbeiteten Konsenses wirklich gewollt ist. Alle brauchen das Bewusstsein, dass Kultur das ist, was alle tun.

Aber ich glaube: Es ist möglich, und es ist es wert. Agile Selbstorganisation ist langfristig die bessere Variante, schnell, unkompliziert und handlungsfähig auf schnelle Veränderungen im Umfeld zu reagieren.

Übrigens: Inzwischen haben wir weiße Stellplatzmarkierungen auf dem Parkplatz angebracht. Für unsere Besucher 😉

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