Steigende Preise, Krisen, Konflikte und der Klimawandel – die Deutschen schauen mit Sorge auf das kommende Jahr 2024. Das hat die Hamburger Stiftung für Zukunftsfragen in einer repräsentativen Umfrage herausgefunden. Das sind doppelt so viele wie vor zehn Jahren. Und je älter die Befragten sind, desto tiefer sind auch die Sorgenfalten: Unter 34 blickt jeder zweite mit Angst auf das neue Jahr, bei den über 55-jährigen sind es zwei Drittel.
Dabei schätzen die meisten Deutschen die Entwicklung ihrer persönlichen Situation deutlich positiver ein als die unserer Gesellschaft insgesamt – seit Jahren ein konstanter Befund in vielen Umfragen. „Den meisten Deutschen geht es persönlich gut, auch wenn in der Öffentlichkeit der Eindruck großer Unzufriedenheit vorherrscht“ – diesem Satz stimmen 64 Prozent aller Befragten in einer repräsentativen Studie des Hamburger Zukunftsforschers Horst Opaschowski zu.
„Die Welt geht den Bach runter, ich selbst bin aber okay“ – wie kommt es zu dieser Diskrepanz? Was macht sie mit uns? Und gibt es Wege, wie aus dem persönlichen Optimismus wieder ein Stück gesellschaftliche Aufbruchstimmung werden kann?
Je länger ich darüber nachdenke, desto nachvollziehbare finde ich die Gleichzeitigkeit von gesellschaftlichem Pessimismus und persönlichem Optimismus. Ich habe da fünf Vermutungen, woran das liegt:
- Komplexität: Klimawandel, Zerfall der unipolaren Weltordnung, Kriege, Inflation und steigende Energiepreise, gesellschaftliche Polarisierung, erfolgreiche Populisten in vielen Ländern – die Probleme in unserer Gesellschaft sind tatsächlich komplex. Sie betreffen nicht nur viele Menschen auf einmal, sie treten auch gleichzeitig in Erscheinung, und sie scheinen drittens in einem unentwirrbaren Knäuel miteinander verwoben. Viele persönliche Probleme sind dagegen vergleichsweise klar und „übersichtlich“, so herausfordernd sie im Einzelfall auch sind.
- Mediale Vermittlung: Die Herausforderungen ihres persönlichen Alltags können die meisten Menschen vielleicht nicht einfach lösen, aber gut selbst verstehen: Wenn die Miete steigt, eine chronische Krankheit diagnostiziert wird oder die Inflation die Ersparnisse auffrisst, dann erlebe ich das relativ direkt. Ich brauche niemanden, der mir mein Problem erklärt. Dagegen erfahre ich gesellschaftliche Probleme oft nur medial vermittelt – sei es in journalistischen Medien oder in sozialen Netzwerken. Und weil negative Nachrichten sich kommunikativ schneller verbreiten, häufiger geklickt werden, von Algorithmen höher priorisiert werden und sich psychologisch stärker einprägen, wird aus medialer Vermittlung schnell mediale Überforderung. „Bloß keine neue Nachrichten mehr“ – diesen Satz habe ich den letzten Monaten mehr als einmal gehört.
- Vielfalt der Perspektiven: In einer offenen, pluralistischen Gesellschaft gibt es zu jedem Problem nicht nur die eine Sichtweise und schon gar nicht die eine Lösung, die unmittelbar für jedermann einsichtig und richtig wäre. Da wird diskutiert und debattiert, da kochen die verschiedensten Player und Interessensgruppen ihr jeweiliges Süppchen, und was am Ende bei mir persönlich ankommt, ist der Eindruck von Chaos und mangelnder Tatkraft. Kein Wunder, dass Populisten mit ihrem Versprechen einfacher Lösungen für komplexe Probleme immer mehr Zulauf bekommen. „Einfach mal eine klare Ansage machen, einfach mal durchgreifen“ – das ist zwar keinerlei Lösung in der Sache, aber anscheinend finden immer mehr Menschen schon den Anschein von Ordnung und Tatkraft zunehmend attraktiv.
- Verklärung der Vergangenheit: Es ist eine von der Psychologie erwiesene Eigenschaft unseres Bewusstseins: Probleme, die hinter uns liegen, verlieren im Lauf der Zeit ihre Brisanz. Sie erscheinen uns im Rückspiegel der Erinnerung durchweg positiver, als wir sie seinerzeit „live“ erlebt und durchlitten haben. Für unser Gehirn ist das ein effizienter Mechanismus: Warum soll es einen Schmerz speichern, wenn das Problem hinter mir liegt und ich gar keine dringliche Aufforderung zum Handeln mehr brauche? Unseren Blick auf gesellschaftliche Entwicklungen allerdings verzerrt die Verklärung: Weil die Probleme von gestern in unserer Erinnerung geschrumpft sind, haben wir den Eindruck: Früher war alles besser, und die Probleme werden immer größer.
- Scheinlösung Geld: Das ist jetzt sicher subjektiv und hängt auch von der politischen Einstellung ab, aber ich habe den Eindruck, dass wir in unserer Gesellschaft mit ihrem immer noch relativ hohen Wohlstandniveau politisch dazu tendieren, alle Probleme mit Geld zuzuschütten. Aber manche unserer Probleme weisen auf einen substanziellen, strukturellen Veränderungsbedarf hin, sei es eine Unabhängigkeit von fossilen Brennstoffen, Entbürokratisierung, Digitalisierung oder so vieles mehr. Es ist verführerisch für politisch Verantwortliche, solche Probleme unter Geld, Subventionen oder Beihilfen zu begraben. Wer wollte nicht öffentlich sichtbar zu den „moralisch Guten“ gehören? Ein solches politisches Handeln entschärft tatsächlich für viele Menschen die persönlichen Krisenfolgen, was sie ihre persönliche Situation optimistischer einschätzen lässt. Das wird aber erkauft durch eine Verzögerung oder gar Vermeidung notwendiger gesellschaftlicher Veränderungen. Und viele Menschen spüren, „dass das nicht mehr lange so weitergehen kann“ – und schätzen die gesellschaftliche Entwicklung entsprechend pessimistisch ein.
Dies sind meine fünf Vermutungen, warum viele Menschen derzeit empfinden, dass „die Welt den Bach runtergeht, ich selbst bin aber okay“. Und ich glaube, das diese Empfindung etwas mit uns macht.
Wenn die Welt den Bach runtergeht, ich selbst aber okay bin, dann fördert das den Rückzug ins Private. Dann macht uns das anfällig für Populisten und ihr Versprechen, komplexe gesellschaftliche Probleme einfach zu lösen. Dann können auch Christenmenschen dazu tendieren, zunehmend für ihre persönliche Wohlfahrt zu beten und um Schutz vor „der bösen Welt da draußen“ – eine Art „geistlicher Rückzug ins Private“. Dann lasse ich den Kreis meiner Wirksamkeit schrumpfen, kümmere mich nur noch um die Menschen, Umstände und Probleme, die ich kenne, verstehe, und für die ich Hoffnung habe. Dann wird mir das große Wir in unserer Gesellschaft zunehmend egal, solange es nur mir und den Meinen weiter gut geht.
Langfristig wäre wohl niemandem mit einer solchen Entwicklung geholfen. Deshalb brauchen wir Wege, wie aus dem persönlichen Optimismus auch wieder ein Stück gesellschaftliche Aufbruchstimmung im Großen und Ganzen werden kann. Ich habe da keine endgültigen und schon gar keine pauschalen Lösungswege. Nur ein paar hoffnungsvolle Imperative, die ich gerne ins neue Jahr 2024 mitnehmen möchte:
- Tu was du kannst – immer ein kleines Stückchen über deine eigene Bubble und deine persönliche Komfortzone hinaus
- Widme deine Aufmerksamkeit, Anteilnahme, Ermutigung und Fürbitte anderen Menschen, wo du kannst
- Gestalte deinen Medienkonsum bewusst und beteilige dich nicht am „Alles geht den Bach runter“
- Interessiere und engagiere dich für lokale Themen in deiner Stadt, deinem Verein, deiner Kirche, deinem Stadtteil
- Fordere und wähle Politik, die die komplexen Herausforderungen anerkennt und konkrete Lösungen anbietet, die nicht einfacher scheinen als es die Probleme sind
- Vertraue einem Gott der die ganze Welt in seiner Hand hält
Ich weiß nicht, wie weit ich auf diesem Weg im neuen Jahr 2024 vorwärts komme. Oder wir gemeinsam als Gesellschaft. Aber ich wage die Prognose: Je weiter ich in diese Richtung vorwärts komme, desto optimistischer werde ich zum nächstes Silvester ins Jahr 2025 blicken.
Wir sprechen uns in einem Jahr wieder. Und heute wünsche ich dir erstmal einen gesegneten, gesunden, kraftvollen und optimistischen Start ins neue Jahr 2024…
Wir bleiben in Verbindung!
Übrigens: Wenn du dich mit verschiedenen Aspekten aus diesem Artikel auseinander setzen möchtest, habe ich ein paar Episoden-Empfehlungen aus meinem Podcast „Wegfinder“ für dich, den ich zusammen mit Uwe Heimowski mache:
(57) Prinzip Hoffnung
Über das, was uns Mut macht und Zuversicht für eine bessere Zukunft gibt.
(54) Wir
Über Demokratie, Pluralismus und die Macht von 80 Millionen Menschen.
(52) Wird schon!
Über Optimismus, Zuversicht und das Leben mit einem hoffnungsvollen Blick nach vorn.
(48) Rechtsaußen
Über den Höhenflug der AfD und das Verhältnis von Christen zum Populismus.
(44) Umparken im Kopf
Über den Abschied von Althergebrachtem und den Mut zu neuem Denken.
(42) Weniger
Über steigende Preise und sinkenden Mut.
(26) In der Krise
Über Resilienz und den guten Umgang mit schlechten Nachrichten.
(25) Zeitgeist
Über unsichtbare Einflüsse auf unser Lebensgefühl und unser Bild von Gott und der Welt.
(12) Dystopia
Über die Angst vor der Apokalypse und die Hoffnung der Christen.
(4) Mainstream
Über Wahrheit und Wahrhaftigkeit in einer pluralistischen Gesellschaft.
(2) Bruchlinien
Über zunehmende Polarisierung und die Rolle von Christinnen und Christen.