Der Weg in die Unfreiheit

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Seit dem russischen Überfall auf die Ukraine vor rund 500 Tagen im Februar 2022 interessieren wir uns hierzulande mehr für die Geschichte Osteuropas. Endlich scheint in unseren Köpfen angekommen zu sein, dass Polen, Ungarn, Rumänien oder eben die Ukraine nicht einfach eine Ansammlung europäischer Entwicklungsländer ist, sondern Staaten mit einer ganz eigenen Sprach- und Kulturgeschichte. Und mit ganz eigenen Erfahrungen mit den Mechanismen von Diktatur, Unterdrückung und imperialistischer Eroberung, von denen wir lernen können. Nicht nur über andere, sondern auch über uns selbst, und über unser eigenes Risiko, als demokratische Gesellschaft auf den Weg in die Unfreiheit zu geraten.

Der amerikanische Historiker Timothy Snyder hat sich nicht nur auf die Geschichte Osteuropas spezialisiert, sondern in seinem Buch The Road to Unfreedom („Der Weg in die Unfreiheit“) eine  Analyse vorgelegt, wie politische Unfreiheit funktioniert, wie sie angebahnt und ausgebaut werden kann. Synder beschreibt dies vor allem anhand der jüngeren Geschichte Russlands nach dem Zerfall der Sowjetunion, aber oft genug hält er auch den Menschen in den „Demokratien des Westens“ (und auch selbstkritisch seiner eigenen amerikanischen Nation) den Spiegel vor, wo auch wir in Gefahr stehen, auf den Weg in die Unfreiheit zu geraten.

The Road to Unfreedom basiert auf der Gegenüberstellung zweier grundsätzlich verschiedener Politikansätze.

Da ist zum einen die politics of inevitability („Politik der Zwangsläufigkeit“): Nach diesem politisch-historischen Denkansatz entwickeln sich die Dinge in Bahnen von Zwangsläufigkeit, wie z.B. von Francis Fukuyama („Das Ende der Geschichte“) beschrieben oder von Angela Merkel als  Begründung ihrer Politik postuliert („alternativlos“). Da gibt es für den einzelnen Menschen nicht viel zu entscheiden, nicht viel zu gestalten, man fährt mit auf einem Zug in die Zukunft, die ja längst feststeht. Die Gleise liegen längst, nun gilt es nur noch, den Zug in Bewegung zu halten.

Aus diesem Politikansatz heraus entsteht nach Synder als Gegenbewegung die politics of eternity („Politik der ewigen Wahrheit“), wie sie Populisten, identitäre Bewegungen und letztlich auch Putin in seiner pseudo-historisch verklärten Mission zur Wiedergeburt einer früheren russischen Ehre betreiben. Da geht es um „das Volk“ und „die Bestimmung“ und „unsere traditionelle Kultur“, nichts bewegt sich in Richtung Zukunft, es gibt letztlich keine Zukunft, es braucht auch keine.

Timothy Snyders Grundthese ist: Die echte Geschichte entsteht zwischen diesen beiden Politikansätzen. Geschichte entsteht im Freiraum zwischen vermeintlicher Zwangsläufigkeit und vermeintlich ewigen Wahrheiten. Geschichte entsteht, wo der einzelne Mensch seine eigenen Handlungsmöglichkeiten erkennt und zwei Dinge gleichzeitig glauben kann: Dass die Zukunft erstens noch nicht geschrieben ist und auch nicht einfach von alleine entsteht. Und zweitens, dass es sich absolut lohnt, eine angeblich ewige, zeitlose Vergangenheit zurück zu lassen und die Zukunft in Freiheit mitzugestalten.

Bewaffnet mit dieser Grundthese zieht Snyder dann durch die jüngere politische Geschichte Russlands, Europas und der USA. In sechs grundlegenden Kapiteln führt er dann durch sechs wesentliche politische Spannungsfelder: Individualismus vs Totalitarismus, Friedlicher Machtwechsel vs Zusammenbruch, Europäische Integration vs Imperium, Innovation vs Ewigkeitsdenken, Wahrheit vs Lüge, Gleichheit vs Oligarchie.

Ich habe bei politischen und historischen Sachbüchern ja manchmal damit zu kämpfen, selbst gute Bücher wirklich zu Ende zu lesen. Bei The Road to Unfreedom fiel mir das leicht, denn Timothy Snyder setzt nicht sehr viel Geschichtswissen voraus, erklärt Zusammenhänge und ordnet sie immer wieder ins große Bild ein. Und er schafft es, tatsächlich einen roten Faden durch die beschriebenen Spannungsfelder zu weben. Der mündet im Epilog in einem leidenschaftlichen Appell (soweit Historiker eben leidenschaftlich sein können), sich nicht von einer politics of inevitability in die politische Teilnahmslosigkeit drängen zu lassen, aber sich auch nicht von leeren Versprechungen einer politics of eternity in populistische oder gar faschistische Deutungsmuster einspinnen zu lassen.

Mit The Road to Unfreedom fordert Timothy Snyder eine politics of responsibility (Politik der Verantwortlichkeit), die die Ungewissheit der Zukunft zugibt, und die Menschen nicht nur diese Zukunft zumutet, sondern auch die Freiheit, diese Zukunft verantwortlich mitzugestalten.

Fazit: The Road to Unfreedom ist über den Krieg Russlands gegen die Ukraine hinaus historisch lehrreich, macht politisch nachdenklich, führt neu die Kostbarkeit der Freiheit vor Augen und verdeutlicht, wie wesentlich individuelle Freiheit und Mitverantwortung zusammen gehören.

Wem 281 Seiten etwas gewichtig sind und lieber „Timothy Snyder light“ hätte: Ich kann auch On Tyranny empfehlen, das sich ein ganzes Stück kompakter mit den Mechanismen auseinandersetzt, die eine Gesellschaft von der Demokratie über den Populismus in Diktatur und Tyrannei führen können.

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