Warnlämpchen der Demokratie

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Neulich hat der im britischen Exil lebende Philosoph Vlad Vexler in einem Kurzvortrag über die aktuellen Entwicklungspfade vieler westlicher Demokratien vier Gefühle benannt, die Menschen in die Arme von Populisten treiben: unsafety, powerlessness, betrayal, opacity. Zu Deutsch: Das Gefühl der Unsicherheit, das Gefühl der Ohnmacht, das Gefühl betrogen oder verraten zu werden, das Gefühl des Ausgeschossenseins von wesentlichen Informationen und Vorgängen.

Ich fand das irgendwie schlüssig – und höchste Zeit, in unseren gesellschaftlichen Debatten über diese Gefühle zu sprechen.

Damit meine ich nicht meine persönlichen Befindlichkeiten als einzelner Bürger in der Gesellschaft – Politik ist keine Sozialpädagogik, auch wenn ich bei manchen politisch Verantwortlichen manchmal den Eindruck habe, sie würden da nicht so klar unterscheiden. Auch wenn die Algorithmen der allgegenwärtigen sozialen Netzwerke uns weismachen, den Rest der Welt würde tatsächlich brennend interessieren, was ich gerade mache und wie ich mich gerade fühle.

Nein, es geht nicht darum, Gefühle zu besänftigen, zu bedienen oder sie zu managen.

Letzteres geht ohnehin nicht; Gefühle sind wie ein Warnlämpchen am Amaturenbrett deines Autos: Sie zeigen an dass da was ist, aber sie sind nur die Problemanzeige, nicht das wirkliche Problem. Die blinkende Motoranzeige sagt nicht „Schau an wie ich blinke“, sondern „Schau auf den Motor“.

Deshalb ist gesellschaftliche Besänftigen von Gefühlen – und sei es in bester Absicht – genauso wenig wirklichkeitsverändernd wie das populistische Bewirtschaften von Gefühlen.  Natürlich machen die blinkenden Warnlämpchen am Amaturenbrett etwas mit den Leuten, die im Auto sitzen. Man darf sie nicht einfach weiter blinken lassen. Aber am Ende sind sie nicht das Problem an sich, sondern die Problemanzeige. Was nützt es den Leuten im fahrenden Auto, wenn die Warnlampen alle wieder aus sind – aber der Motor, die Bremsen oder die Lenkung sind immer noch gestört?

Unsicherheit, Ohnmacht, Verrat, Ausgeschlossenheit – es wird nicht leicht sein, die Probleme auf gesellschaftlicher Ebene zu lösen, die diese vier Warnlämpchen blinken lassen.

Natürlich fühlt sich eine komplexe Welt unsicher an. Wir alle bewegen uns im von Globalisierung, Digitalisierung, Klimawandel und Migration aufgespannten Viereck nicht wie eine Gesellschaft, die an eine gute Zukunft glaubt und genau weiß, was zu tun ist. Auch Christenmenschen sind da keine Ausnahme, leider (deshalb machen Uwe Heimwoski und ich auch seit zwei Jahren den Podcast „Wegfinder“). Wer sich unsicher fühlt, will Lösungen, schnell. Oder ersatzweise das noch schnellere Versprechen von Lösungen. Aber komplexe Probleme lassen sich nicht mit einer Musterlösung angehen. Wir müssen da gemeinsam rein und gemeinsam durch, Schritt für Schritt. Experimentierfreudig und lernbereit. Wir dürfen dabei nicht aus den Augen verlieren, wo Dinge nicht schlechter werden sondern tatsächlich besser. Und wir dürfen uns dabei nicht von Ideologien leiten lassen, sondern von Fakten.

Und – Stichwort Ohnmacht – je mehr ich dabei selbst ausprobieren, bewegen und gestalten kann, umso besser kann ich mit meinem Unsicherheitsgefühl umgehen. Und andersherum: Je ohnmächtiger ich mich dem ausgeliefert fühle, was „die da oben mal wieder ausgetüftelt haben“, desto schwieriger wird’s. Im Change Management ist das Prinzip schon lange verstanden: Mach Menschen zu Beteiligten. Drück sie nicht in die Passivität. Überlass sie nicht ihren Ohnmachtsgefühlen. Gib ihnen einen aktiven Part in dem, wohin es gehen soll. Ich wünsche mir Verantwortliche in Politik, Gesellschaft, Firmen und Kirchengemeinden, die in einer komplexen Welt entschlossen den Weg in Richtung Zukunft anführen. Aber ich wünsche mir auch, dass sie das nicht in einer bemutternden, paternalistischen Haltung tun, die mich in meinen Ohnmachtsgefühlen sitzen lässt. Und nein, moralische Appelle und Gesinnungskampagnen in sozialen Medien sind keine Lösung. Zeigt uns, wie wir mithelfen können – und traut uns zu, das zu tun!

Verrat, das ist ein großes Wort. Das Gefühl, betrogen worden zu sein, kann man eigentlich nur haben, wenn einem vorher etwas versprochen wurde. Oder wenn man geglaubt hat, es wäre einem doch versprochen. Wenn Politikerinnen oder Politiker ein Wahlversprechen brechen, dann kann ich ein Gefühl der Enttäuschung verstehen. Aber Verrat? Ja sicher, das Versprechen des „Thatcherismus“ in Großbritannien oder der „Reaganomics“ in den 1980er Jahren, dass Steuersenkungen für Reiche am Ende auch Armen zugute kommen würden, kann man als Verrat empfinden, wenn man als Arbeiter die Tories bzw. die Republikaner gewählt hat – und am Ende doch das Stahlwerk dicht macht, in dem man 30 Jahre lang geschuftet hat. Auch die „blühenden Landschaften“ Helmut Kohls in Ostdeutschland mag man als Verrat empfinden. Aber ich glaube, Verrat als Gefühl geht tiefer als ein nicht verwirklichtes Wahlversprechen. Ich glaube, dahinter steht die schmerzvolle Erkenntnis, dass ein wesentliches Stück der Welt doch anders ist als das mentale Modell, das ich ganz tief innen davon hatte. Wenn ich mich betrogen oder verraten fühle, mache ich andere Menschen für etwas verantwortlich, was ich am Ende doch selber leisten muss, weil nur ich es leisten kann: Mein mentales Modell von der Welt an die schmerzhaft neu erkannte Wirklichkeit anpassen (und das ist ganz unabhängig davon, ob Verantwortliche tatsächlich an mir schuldig geworden sind).

Ausgeschlossensein – das ist für mich das zwiespältigste der vier Gefühle. Leben wir nicht in einer Informationsgesellschaft, in der wir so viel wissen können über all das, was um uns herum passiert, als jede andere Generation vor uns? Leben wir nicht in einer Demokratie, in der wir uns aktiv beteiligen können bei Wahlen, in Parteien und bei Demonstrationen? Ist unsere Arbeitswelt nicht geprägt von Mitbestimmungsrechten, von denen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in den meisten anderen Ländern nur träumen können? Wie kann es sein, dass Menschen, die so viel mitwissen und mitbestimmen könnten, dennoch ein Gefühl entwickeln, sie seien von wesentlichen Informationen und gesellschaftlichen Vorgängen ausgeschlossen? Ich bin mit dieser Frage noch fertig, und meine vorläufige Vermutung ist: Dieses Gefühl hat mit den anderen drei Gefühlen zu tun und wird von ihnen gespeist. Wenn ich mich unsicher fühle, muss es doch Leute geben, die für Klarheit sorgen und die Dinge wieder in Ordnung bringen. Warum reden diese Leute nicht mit mir? Warum sorgen sie nicht für Sicherheit? Bestimmt haben die doch ihre Pläne, warum weihen die mich nicht ein? Wenn ich mich ohnmächtig fühle, weil mir anscheinend nichts weiter übrig bleibt als zu warten, bis „denen da oben“ einfällt, mir zu helfen – wie sollte ich mich da nicht ausgeschlossen fühlen? Und wenn ich mich betrogen und verraten fühle, dann will ich mit denen doch nichts mehr zu tun haben, die mich da betrogen und verraten haben. Da bleibe ich doch lieber freiwillig außen vor (und fühle mich dann trotzdem ausgeschlossen, vielleicht so ähnlich wie bei einem motzigen Kind, dass sich an seinem Geburtstag in seinem Zimmer einschließt und dort dann darunter leidet, dass die Verwandtschaft im Wohnzimmer einfach weiterfeiert). Ich glaube, erwachsene Menschen haben eine Eigenverantwortung und die sollte ihnen auch nicht voreilig von „Kümmerern“ genommen werden – sonst hilft man ihnen zwar kurzfristig, verstärkt aber möglicherweise langfristig ihr Gefühl des Ausgeschlossenseins.

Wenn ich alle vier Gefühle zusammen nehme, dann gibt es für die vier Warnlämpchen schon ein paar „Pack-Enden“, wo überall in der Gesellschaft Menschen in Verantwortung ansetzen könnten:

  • An eine gute Zukunft glauben und Zuversicht verbreiten
  • Nicht Ideologie-getrieben handeln, sondern faktenbasiert
  • Experimentierfreudigkeit und Lernbereitschaft vorleben und einfordern
  • Menschen einbinden und Betroffene zu Beteiligten machen
  • Menschen einen aktiven Part geben und einen eigenständigen Beitrag zutrauen
  • Sagen, was man tut und tun, was man sagt
  • Ehrlich und frühzeitig ansprechen, wo mentale Modelle nicht mehr zur veränderten Wirklichkeit passen
  • So viel Transparenz wie möglich herstellen, Menschen zur Mitwirkung einladen und ermutigen
  • Menschen ihre Eigenverantwortung deutlich machen und sie nicht vorschnell daraus „retten“

Wo immer du in unserer Gesellschaft gerade Verantwortung trägst – ich glaube du und ich, wir können ein paar dieser Haltungen und Handlungen zu unseren eigenen machen. Und dadurch einen Beitrag leisten, dass die Warnlämpchen am Amaturenbrett unserer freiheitlichen, demokratischen Gesellschaft ein kleines bisschen schwächer leuchten.

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