Ich möchte Jesus folgen, keinen Fahnen

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In den letzten Monaten begegnet mir in manchen christlichen Kreisen, aus dem Mund ihrer jeweiligen Protagonisten, ihren einschlägigen Medien und sozialen Netzwerken die Rede von einer „Spaltung der Evangelikalen“. Und das je nach Position und Perspektive in zwei ziemlich gegensätzlichen Färbungen.

Die eine Färbung ist bestimmt von der Ferndiagnose einer „Anbiederung an den Zeitgeist“. Folgerichtig wird vor einem „Abfall“ oder dem „Verrat biblischer“ Werte gewarnt. Und festgemacht wird das vermeintlich passgenau an bestimmten Haltungen zu Genderfragen, Flüchtlingspolitik, Homosexualität oder Corona-Maßnahmen. Entlang dieser Perspektive wird meist „die evangelische Kirche“ als warnendes Beispiel genannt und „liberale Theologie“ als tiefere Ursache für den Niedergang verortet. In der inneren Logik dieser Perspektive ist die Versammlung des eigenen Lagers um die eigene Fahne das Gebot der Stunde.

Die andere, gegensätzliche Färbung sucht die Distanzierung von einer mutmaßlich „fundamentalistischen“ oder „biblizistischen“ Glaubensprägung. Dahinter wird als Ursache die Unfähigkeit diagnostiziert, sich auf kulturelle Veränderungen in unserer Gesellschaft einlassen zu können oder zu wollen. Entlang dieser Perspektive wird jedes Festhalten an gesellschaftlich nicht länger mehrheitsfähigen Wertvorstellungen als vermeintliches Symptom eines fehlenden intellektuellen Horizonts, einer rückständigen Auslegung der Bibel oder einem angstgesteuerten Glaubensverständnis gewertet. Die innere Logik dieser Perspektive hisst eine andere, gegensätzliche Fahne: Konsequente Dekonstruktion und Neuinterpretation früherer Gewissheiten wird zum einzigen Weg in die Freiheit.

Und je näher ich einem der beiden Enden des Spektrums komme, wo die jeweilige Färbung besonders intensiv leuchtet, desto weniger redet man miteinander und entschiedener übereinander. Angetrieben von den Mechanismen unserer Mediengesellschaft, in der Konflikt Aufmerksamkeit bedeutet und Empörung Marktmacht, kocht jeder und jede das eigene Süppchen und serviert es der eigenen Fangemeinde. In der Folge begegnet man sich nicht mehr neugierig und nachdenklich, sondern tritt einander nur noch in fordernder, radikaler Konsequenz entgegen – die einen im konsequenten kulturellen Widerstand, die anderen in konsequenter kultureller Aufklärung.

Und ich? Stehe dem ratlos gegenüber. Ich bin ratlos, wenn mir Brüder und Schwestern in Christus mit Verdacht und Vermutung entgegentreten, allzeit bereit zur Aburteilung durch Assoziation. Ratlos, wenn mir Menschen begegnen, denen es nicht um meine Person geht, um meine geistliche Reise, um meine eigenen Fragen, sondern vor allem und zuerst um ihre eigene Fahne. Ich bin ratlos, wenn Menschen von mir ein Bekenntnis fordern zu dem, wozu sie sich selbst bekennen und eine Distanzierung fordern von dem, wovon sie sich selbst distanzieren. Geht es noch um das gemeinsame Wahrnehmen von Färbungen und das gegenseitige Verständnis – oder nur noch um die Loyalität zu Fahnen? Freiheit eines Christenmenschen – Fehlanzeige?

Gerne möchte ich den Protagonisten der Polarisierung, den Süppchenkochern, Bekenntnisforderern und Distanzierungsbegeisterten sagen: Ich möchte euer Spiel nicht mitspielen. Vielleicht verstehe ich zu wenig von dem, was euch umtreibt, vielleicht bin ich auch naiv. Vielleicht liegt es daran, dass ich kein Theologe bin.

Aber 99% der Christinnen und Christen in Deutschland sind keine Theologen. Und für die allermeisten von uns ist es herausfordernd genug, inmitten eines vollen Alltags und durch stürmische Zeiten hindurch einem Jesus nachzufolgen, von dem unsere Nachbarn, Arbeitskolleginnen und Freunde maximal noch eine homöopathische Ahnung haben. Und – wenn es wirklich, echt, richtig gut läuft – sogar ein bisschen Sehnsucht. Haben wir als Jesusnachfolgerinnen und -nachfolger nicht genug damit zu tun, unseren Nachbarn, Arbeitskolleginnen und Freunden glaubwürdige Kontaktflächen mit der Guten Nachricht und lebenstaugliche Andockpunkte an ihren Urheber zu zeigen?

Ja, ich gehe davon aus, dass Gott in jeder Färbung des Spektrums zu finden ist und durch jede Färbung hindurch in die Welt hinein sprechen kann, die er so sehr liebt. Ja, ich bin bereit, Färbungen besser verstehen zu lernen, die geistliche Reise von Brüdern und Schwestern zu glauben und ernst zu nehmen. Ja, ich will sie mit Blick auf Christus unabhängig von Färbungen in ihren Fragen und Herausforderungen und inneren Kämpfen ermutigen. Und deshalb: Nein, ich bin nicht bereit, den Fahnen der Polarisierung zu folgen.

Ich möchte Jesus folgen, keinen Fahnen.

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