Kipppunkt für die Kirche

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Mitte Juni stellte der Vorsitzende der Bischofskonferenz Bätzing  die Mitgliederstatistik der katholischen Kirche in Deutschland für das Jahr 2021 vor. Fazit: Über eine halbe Million Mitglieder weniger, 360.000 davon ausgetreten, die so genannte jährliche „Austrittsrate“ lag bei 1,6 Prozent.

Die individuellen Gründe der Ausgetretenen mögen vielfältig sein, einer sticht immer wieder hervor: Die zu lange verdrängte und bis heute unbeholfen aufgearbeitete Wirklichkeit von sexuellem Missbrauch in den eigenen Reihen einer Organisation, die sich selbst (zu Recht!) ein besonders Maß an Menschenzugewandtheit im Namen eines menschenzugewandten Gottes auf die Fahne schreibt.

Nicht viel besser sieht es bei den evangelischen Landeskirchen aus: 280.000 Austritte im Berichtsjahr 2021, nochmal 60.000 mehr als im Vorjahr, Austrittsrate 1,4 Prozent. Und auch Kirchenkritiker aus dem intensiven Teil des christlichen Spektrums können mit ihrem Verweis auf „mangelnde Bibeltreue“ als vermeintlichen Hauptfaktor dieser Entwicklung nicht überzeugen – denn auch Freikirchen wachsen in Summe so gut wie nicht. Die Leute kommen Kirchen und Gemeinden als Ganzes einfach abhanden.

Damit ist zur gemessenen Gewissheit geworden, was sich seit Jahren abgezeichnet hat: Seit 2022 sind weniger als 50% der Menschen in Deutschland Mitglied in einer christlichen Kirche. Irgendeiner beliebigen christlichen Kirche, und mit irgendeinem beliebigen Grad an innerem Engagement.

50%, das ist zunächst nur eine Zahl, nur eine Wegmarke auf einem langen Weg bergab. Aber ich glaube, es ist auch ein „Tipping Point“, ein Kipppunkt, an dem ein ganzes System nach einer langjährigen, allmählichen Entwicklung nun in einen neuen Zustand übergeht. Nun sind Christinnen und Christen in Deutschland offiziell in der Minderheit. Das wird sich sicher nicht schlagartig auf das Gemeindeleben an der Basis auswirken (und erst recht nicht auf die innere, innige Verbindung von Jesusleuten zu ihrem Herrn). Aber es dürfte den Einfluss und das Gehör mindern, den Christen in den Medien haben, in der Politik und in der Zivilgesellschaft. Wenn Kirche und Glaube öffentlich zunehmend als schwindende Größe markiert werden, und immer mehr Menschen immer mehr Menschen in ihrem Umfeld kennen, die „jetzt auch ausgetreten sind“, könnte sich der Traditionsabbruch weiter beschleunigen. Vielleicht wird man sich „Austrittsraten“ von 1,4 oder 1,6 Prozent eines Tages noch zurückwünschen.

Angesichts dieser Aussichten bin ich immer wieder begeistert, in Landes- und Freikirchen unermüdlichen und hochengagierten Leuten zu begegnen, die sich für ihr geistliches Anliegen aufopferungsvoll einsetzen. Und ich finde es befremdlich, betrüblich und auch tragisch, wenn ich ab und zu Insider von Landes- und auch Freikirchen erlebe, die in ihrem Elfenbeinturm und beseelt von ihrer Binnenperspektive meinen, all das würde sie schon nicht betreffen. Doch, das wird es – uns alle. Christliche Kirchen und Gemeinden werden nach diesem Tipping Point lernen müssen, in einem neuen Paradigma zu arbeiten und wirksam zu werden. Wir werden lernen müssen, interne Streitigkeiten und Spitzfindigkeiten zugunsten einer gemeinsamen gesellschaftlichen Stimme für bedeutungslos zu erklären. Wir werden lernen müssen, zugunsten gemeinsamer übergeordneter Werte die Zusammenarbeit auch mit nicht-kirchlichen und nicht-christlichen gesellschaftlichen Akteuren zu suchen. Wir werden lernen müssen, dass wir nicht der Nabel der Welt sind und die Welt um uns herum nicht auf uns wartet. Wir werden lernen müssen, unsere Finanzen dorthin zu steuern, wo sie unserer Relevanz für die Leute „draußen“ dienen, nicht „drinnen“. Wir werden lernen müssen, so von Gott zu reden, dass wir verstanden werden und verstanden werden wollen.

Ich bete und hoffe, dass wir auf unserem Weg in die Zukunft auch neu lernen, dass der Wert von Kirche Jesu nicht in ihrer gesellschaftlichen Stellung, ihrer Anerkennung oder ihrer Rechtgläubigkeit liegt – sondern in der unverfügbaren, übernatürlichen und wirklich erfahrbaren Gegenwart des Herrn der Kirche in ihrer Mitte. Zu 100%.

1 Antwort
  1. Peter Frenzer

    Das hat auch ganz praktische Auswirkungen: Es wird nicht mehr lange möglich sein, daß kath., ev. und Freikirchen jeweils eigene Programme und Veranstaltungen für Jugendliche, Senioren, Frauen, Männer und welche Gruppen auch immer anbieten. Dafür wird kein Geld und auch kein (überwiegend ehrenamtliches) Personal mehr zur Verfügung stehen. Wir können nur hoffen und dafür beten, daß die Ökumene hier endlich so große Fortschritte macht, daß die christlichen Kirchen diese Aufgaben fair untereinander aufteilen.

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