Was die britische Mobilfunkfirma Orange im Netz macht, hätte sich George Orwell nicht im Traum für seinen Roman „1984“ vorstellen können: Gesichtserkennung per Crowd Sourcing zum Nulltarif. Soll heißen: Ich stelle ein Foto einer großen Menschenmenge ins Netz, und Internetnutzer helfen kostenlos und völlig freiwillig, alle Gesichter in der Menge zu identifizieren. Es ist der Traum jeder Polizeibehörde: Keine Recherchen und Archivabgleiche mehr, keine Befragung möglicher Nachbarn und Arbeitskolleginnen – wozu Ermittler losschicken, wenn mich meine Freunde zum Nulltarif und ohne Verdachtsmoment identifizieren?
Der konkrete Fall betrifft das Musikfestival in Glastonbury, bei dem Orange von der Bühne herunter in die Menge fotografiert hat. Das Foto steht als Flash-Applikation auf der Orangewebsite zur Verfügung, und per Mausklick kann jeder die Namen seiner Freunde bekannten Gesichtern in der Menge zuordnen. Bisher wurden über 9.500 Menschen auf diese Weise von ihren Freunden „getaggt“ – Tendenz steigend. Nicht wenige dürften sich auch stolz selbst geoutet haben – Link zum eigenen Facebook-Profil inklusive.
Ich finde, „getaggt“ klingt irgendwie trendiger und weniger polizeimäßig als „identifiziert“. Und ich finde, die Orange-Aktion ist nicht nur eine Revolution dessen, was bisher das „Recht am eigenen Bild“ hieß. Sondern auch ein Paradebeispiel dafür, dass wir jede herkömmliche Vorstellung von Privatsphäre fröhlich aufgeben, solange uns der Anlaß nur hip, trendig oder komfortversprechend genug scheint.
Ist es ein Zufall, dass die meisten Angebote, die mit unserer Privatsphäre betont locker umgehen (um es mal vorsichtig zu formulieren), aus einem Land wie den USA kommen, in denen viele Menschen (a) komfortorient sind, (b) ein überdurchschnitlich optimistisches Menschenbild haben und (c) noch nie mit einer ausgesprochenen Diktatur zu kämpfen hatten, die ihre Privatsphäre verletzt hat, um ihre Freiheit zu beschneiden?
Oder ist unsere Freiheit längst beschnitten, aber wir freuen uns zu sehr am „taggen“, um es zu bemerken?