Mein Herz in der Krise

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Es ist Sonntag nachmittag. Ich sitze auf unserer Terrasse, die Sonne scheint, Vögel zwitschern, nach einem langen Corona-Herbst und -winter sind die ersten Anzeichen des Frühlings zu erahnen. Aber dann wandern meine Gedanken nach Osten, in die Ukraine. Zu Menschen, die  jetzt genau den gleichen Sonnenschein erleben wie ich, das gleiche Vogelgezwitscher hören – und die gefangen sind zwischen Furcht und Flucht, hinein gerissen sind in Leiden, Kämpfen, Sterben. Ganz normale Männer, Frauen, Kinder, ganze Familien.

Unvorstellbar. Unvorstellbar für mich ihr Erleben. Unvorstellbar diese Gleichzeitigkeit zwischen meinem „Hier und Jetzt“ und ihrem „Hier und Jetzt“, von dem mich nur die Glasscheibe meines Smartphones trennt – und doch eine ganze Welt. Wie kriege ich das zusammen? Wie denke, fühle, verhalte ich mich angemessen angesichts dieser unvorstellbaren Gleichzeitigkeit?

Das soll nicht egoistisch klingen, und klar – über Krieg und Frieden müssen sich wohl viele von uns in diesen Tagen neu und existentieller Gedanken machen, als wir uns das über viele Jahre meinten, leisten zu können. Aber mich bewegt in diesem Moment etwas anderes. Etwas, das ich in gewisser Weise viel schwerer finde als Diskussionen über Geopolitik. Mich bewegt mein eigenes Herz: Was will ich eigentlich angesichts der Gleichzeitigkeit von eigener Unbeschwertheit und massenhaftem Leid von Anderen?

Manchmal fällt es mir leichter zu wissen, was ich nicht will. Ich muss nicht lange nachdenken, um zu wissen: Ich will nicht oberflächlich oder herablassend mit dem Leid anderer Menschen umgehen. Ich will nicht naiv mit meiner eigenen Lebenssituation und ja, auch mit ihrer möglichen existenziellen Bedrohung umgehen (Stichwort: Atomwaffen). Ich will nicht in billigem Aktivismus nur mein eigenes Gewissen beruhigen um dann endlich wieder meine Ruhe zu haben. Ich will nicht so leben, als gäbe es Gott nicht.

Und was will ich? Ganz ehrlich: Da ist schon diese Sehnsucht einer Leichtigkeit und Unbeschwertheit des Lebens, ja. Aber da ist auch der Wunsch, das Wesentliche über das Geschehen in dieser Welt zu wissen und das Sinnvolle daraufhin zu tun – ich will keine Weltflucht. Und irgendwie will ich, dass beides zusammen kommt, will beides integrieren – die Unbeschwertheit des Moments und den realistischen Blick auf unsere Welt.

Geht das zusammen? Wie geht das zusammen?

Mir kommen Freunde in den Sinn, die Trauerfälle in ihrer Familie hatten. Die nach längerem Leiden oder aus heiterem Himmel einen geliebten Menschen verloren haben. In deren Alltag Tod, Schmerz und Verlust eingebrochen ist. Freunde, deren Alltag ich weiterhin teile – auch wenn ich ihren Schmerz und Verlust nur teilweise nachvollziehen kann. Ich habe jahrelang gerungen mit der Frage, wie ich mich angesichts schwerer Schicksalsschläge anderer Menschen angemessen und hilfreich verhalten kann. Mir ist bewusst, dass ich in ihr Schicksal nicht hinein treten, ihr Leid nicht so empfinden kann als wäre es mein eigenes. Und doch ist klar: Jedes „ich weiß, wie es dir geht“ verbietet sich in solchen Situationen, jedes „Kopfhoch“ (oder jeder gedankenlos dahin gesagte Bibelvers) – und auch jedes „So tun als wäre nichts“. Für einen trauernden Menschen liegen Normalität und Katastrophe plötzlich ganz nah beieinander. Und sie stellen fest: Das eine kann das andere nicht auslöschen, es gehört – mindestens für den Augenblick – zusammen. Menschen im Leid nahe zu sein heißt zu akzeptieren, dass das so ist. Dass ich das nicht voneinander lösen und gegeneinander auflösen kann. Und dass ich das auch gar nicht muss.

Was bedeutet nun dieser Gedanke für mich, angesichts der millionenfachen Schicksale von Menschen in der Ukraine angemessen denken, fühlen und handeln zu wollen? Wie gehe ich mit der Gleichzeitigkeit von eigener Normalität und medial vermitteltem unsäglichen Leid um?

Fünf Leitsätze werde für mich beim Nachdenken wichtig:

  1. Ich fühle, wie ich fühle – und das ist okay. Vielleicht ist es Teilnahmslosigkeit, vielleicht Unbeschwertheit. Vielleicht Angst, Sorge oder Überforderung… all das ist erst einmal okay. Es gibt kein Gefühl, das ich haben sollte. Mein Gefühl, das ich jetzt und hier habe, ist eine Momentaufnahme, meine Momentaufnahme. Es ist weder der Maßstab für die ganze Welt, noch der Maßstab für alle Zeit. Ich mag mehr oder weniger mit Menschen mitfühlen, aber weder kann ich die Furcht, Trauer oder Wut Anderer stellvertretend auf mich nehmen, noch kann ich Gefühle vorwegnehmen für eine mögliche, eigene Zukunft.
  2. Ich habe nicht das ganze Bild.  Alle Sondersendungen und Twitterfeeds dieser Welt verhelfen mir nicht zu einem  umfassenden, befriedigenden Begreifen meiner Gegenwart. Und erst recht nicht zu einer realistischen Prognose über meine Zukunft. Ja, das Wesentliche weiß ich, und will es auch wissen: Es ist Krieg. Menschen leiden und sterben. Menschen kämpfen. Menschen müssen schwierige Entscheidungen treffen, Mächtige wie Ohnmächtige. Es ist offen, wie sich das auf die Zukunft alle diese Menschen auswirken wird. Es ist offen, wie es sich auf meine Zukunft auswirken wird. Und nichts und niemand kann mir die fehlenden Puzzleteile jetzt und hier liefern – und auch das ist okay.
  3. Ich vertraue mich Gott an. Mit meinen vielleicht nicht immer passenden Gefühlen und meinem bruchstückhaften Wissen vertraue ich mich Gott an. Wohin sonst sollte ich mich wenden? Ich denke an Jesus, wie er in einer Breite und Tiefe mit dem Leid der Welt konfrontiert war, wie wohl niemand sonst. Jesus hat geweint. Geseufzt. War besorgt. Frustriert. Jesus war in all dem realistisch. Überzeugt. Ermutigend. Hoffnungsvoll. Jesus wusste, was sein Vater im Himmel wollte, und war auch in Situationen menschlicher Ohnmacht ganz da, auch mit seinen Gefühlen. Und es ist okay, wenn ich das nicht kann. Ich bin nicht Jesus, und das brauche ich auch nicht zu sein. Ich verlasse mich darauf, dass mein Herz, wenn es sich aufrichtig mit diesem Jesus verbindet, am Ende auch angemessen mit Gottes geliebter Welt und mit dem Schicksal seiner geliebten Menschen umgehen wird.
  4. Ich halte mein Herz offen für das Beten. Die drei unproduktiven „S“ der Krisenbewältigung – Seufzen, Sorgen, Scrollen – werden durch Beten in etwas Produktives verwandelt. Im Beten wende ich mich an den, der trittsicher ist im Mitleid, der ein umfassendes Bild der ganzen Wirklichkeit hat, der auch meine Zukunft in seiner Hand hält. Im Beten wende ich mich an den, der das Gute für alle Menschen soviel mehr will, als ich es jemals könnte (das Gute für mich selbst eingeschlossen). Und so bete ich in diesen Krisentagen für die Verängstigten, Gefährdeten, Verwundeten, Flüchtenden, Trauernden, Wütenden. Für die Entscheidungsträger, die Helfenden, die Verantwortlichen, die Schuldigen. Für den Frieden in dieser Welt – in den Regionen, auf die der Scheinwerfer der Öffentlichkeit zur Zeit gerichtet ist, und auch in den Regionen, die wir schon längst aus dem Blick verloren haben.
  5. Ich tue das Kleine mit großer Hoffnung. Ich ermutige, wo sich Menschen sorgen. Ich rede besonnen, wo Menschen sich von Hitzigkeit anstecken lassen. Ich rede klar, wo Menschen sich ihre Wirklichkeit zurechtbiegen oder es sich auf Kosten anderer einfach machen. Ich achte auf die Qualität und die Quantität meiner Informationszufuhr genauso wie auf das, was ich like, poste oder sonst von mir gebe. Ich sorge für meine eigene Seele und genieße dankbar, was ich in meinem Hier und Jetzt Schönes erlebe. Ich teile mein Gebet, mein Ohr, mein Geld und meine praktische Hilfe mit denen, die es jetzt brauchen. Egal wie wenig oder wie viel es im Angesicht einer geopolitischen Krise sein mag.

Ja, ich weiß – die innere Haltung meines Herzens macht für diese große Welt und für alle die Menschen in der Ukraine nicht den entscheidenden Unterschied. Aber sie macht einen Unterschied für meinen Vater im Himmel, der ins Verborgene sieht. Der wahrnimmt, wohin sich mein Herz wendet, wovon es sich berühren lässt. Der auf geheimnisvolle Weise in sein Handeln integriert, worauf mein Herz hofft und wofür es betet.

Ich halte daran fest, dass Gott da ist, auf meiner Terasse genauso wie im Luftschutzkeller in Kiew. Dass es deshalb Hoffnung gibt, weil Gott nicht aufgehört hat, diese Welt in seiner Hand zu halten und jeden Menschen zu lieben. Und ich halte an der Hoffnung fest, dass Friede werden kann. Ein Friede, stärker als menschlicher Hass und menschliche Waffen, höher als menschliche Vernunft und tiefgreifender als meine persönliche Unbeschwertheit.

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