Seit Wochen ist es Nachrichtenhema Nr. 1 und wird es wohl auch noch lange bleiben: Der Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine. Oder, wie es der Bevölkerung in Russland weis gemacht wird: Die „militärische Spezialoperation zur Befreiung des Donbass vor drogenabhängigen Neonazis an der Spitze eines Staates, der gar keiner ist“. Und ein Ende ist leider noch lange nicht in Sicht.
Noch gibt es keine Antworten auf die Frage, wann dieser Krieg enden und, mindestens genauso wichtig, wo dieser Krieg enden wird. „Ein Teil dieser Antworten würde die Bevölkerung verunsichern“, hatte der damalige Innenminister Thomas de Maizière bei der berühmt-berüchtigten Pressekonferenz nach dem Abbruch des Fussballländerspiels Deutschland-Niederlande 2015 in Hannover gesagt, als ihn ein Journalist nach Details zur damaligen terroristischen Bedrohung fragte.
Auch ein Teil der Antworten auf Fragen nach Putins Krieg verunsichern. Erschüttern das Bisherige, das Gewohnte, das Normale – und ja, auch das Bequeme. Bei mir ist das jedenfalls so. Aber trotzdem und deswegen – gerade wenn ein Thema über Tage und Wochen so massiv im medialen Spotlight ist wie Putins Krieg, ist es umso wichtiger, nicht nur auf dieses Spotlight zu starren, si wie eine Motte vom Licht angezogen wird. Es gibt übrigens sogar einen Begriff für dieses zwanghafte Verhalten, schon morgens vor dem Aufstehen und Abends nach dem Zubettgehen die Nachrichtenfeeds durchzusehen: Doomscrolling, das exzessive Verfolgen der negativen Nachrichten, die gerade im Spotlight des medialen Interesses sind.
Ja, ich will wahrnehmen und nicht verdrängen, welche wesentlichen politischen Entwicklungen gerade laufen, die das Potential haben, sich massiv auf unsere Gegenwart und nähere Zukunft auszuwirken. Und nein, ich will mich nicht wie die Motte auf die tagesaktuelle Hiobsbotschaft fixieren, die gerade im Spotlight gehandelt wird. Ich möchte den Blick auch auf die Dinge jenseits vom Spotlight werfen, die mit dieser Krise zu tun haben.
Erstens möchte ich wahrnehmen und reflektieren, was in meinen Gedanken und mit meiner Seelenlage geschieht. Die täglichen Nachrichten können mir das nicht sagen – sie sind ja gerade das, was meine Seelenlage vorhersehbar aus dem Gleichgewicht bringt. Ich habe in den letzten zwei Wochen darüber geschrieben, auch wenn ich weit entfernt bin von wasserdichten Patentrezepten:
Zu viel Wissen, zu wenig Macht
Ich bin zu nah dran, um nichts wissen zu müssen – und nah genug, mich ohnmächtig zu fühlen. Und jetzt?
Mein Herz in der Krise
Wie denke, fühle, verhalte ich mich angesichts des Schicksals leidender Menschen in der Ukraine?
Zweitens möchte ich in Ruhe durchdenken, wie ich mich aufgrund meines christlichen Glaubens zu Krieg und Frieden verhalten und mit meinem Gefühl der Ohnmacht umgehen kann. Das kann ich besser im Gespräch als im stillen Kämmerlein, deshalb habe ich zusammen mit Uwe Heimowski zwei Folgen unseres Wegfinder-Podcasts darauf verwendet, die vielleicht auch anderen weiter helfen können:
(5) Krieg und Frieden
Über die Realität von Krieg und das christliche Engagement für eine bessere Welt
(6) Ohnmacht
Über das Gefühl von Hilflosigkeit in der Krise und wie man es überwinden kann.
Drittens möchte mehr lernen über verschiedene Hintergründe und Perspektiven zu Putins Krieg, für die in Nachrichtensendungen und Talkshows selten die Zeit, der Platz und das erforderliche Maß an Differenzierung zu finden ist. Als politisch interessierter Mensch habe ich in den letzten Wochen unzählige Artikel gelesen und Podcasts gehört, um meinen Blick über das tägliche Drama im medialen Spotlight hinaus zu erweitern. Einige der für mich persönlich lehrreichsten Quellen möchte ich an dieser Stelle als Leseempfehlungen weitergeben:
Was it inevitable? A short history of Russia’s war on Ukraine (Keith Gessen, The Guardian)
To understand the tragedy of this war, it is worth going back beyond the last few weeks and months, and even beyond Vladimir Putin
Putins spiritual destiny (Giles Fraser, UnHerd)
The religious president wants to rebuild Christendom
Vladimir Putin sits atop a crumbling pyramid of power (Vladimir Sorokin, The Guardian)
Putin’s end goal isn’t Ukraine but western civilization – the hatred for which he lapped up in the black milk he drank from the KGB’s teat
Das Gesetz der fortschreitenden Verdummung (Herbert Münkler, Podcast „Das Politikteil“)
Warum die Ukraine militärisch keine Chance hat, Putin selbst politisch aber auch nicht, weil er wie die meisten Autokraten dem „Gesetz der fortschreitenden Verdummung“ unterliegt
Fiona Hill on the War Putin is Really Fighting (The Ezra Klein Show Podcast, New York Times)
How Putin’s motivations and ambitions have changed dramatically in the last decade, why Ukrainian identity is absolutely central to understanding this conflict and the different pathways the war could take
Masha Gessen on Putin’s ‚Profoundly Anti-Modern Worldview‘ (The Ezra Klein Show Podcast, New York Times)
What do ordinary Russians know about the war being waged by their government? What are they being told to believe? And is the propaganda machine working?
Europäische Friedensordnung ohne Russland? (NDR Podcast „Streitkräfte und Strategien)
Kann es nach dem Angriff Russland auf die Ukraine noch eine europäische Friedensordnung mit Russland geben?
Kamil Galeev (Historiker, The Wilson Center)
Twitterfeed (englischsprachig) mit Threads zur geschichtlichen, militärischen und aktuellen politischen Entwicklung in Russland
The Weakness of the Despot (Interview mit Stephen Kotkin, The New Yorker)
An expert on Stalin discusses Putin, Russia, and the West.
Vladimir Putin Has Fallen Into the Dictator Trap (Brian Klaas, The Atlantic)
Reality doesn’t conform to the theory of the rational, calculating despot who can play the long game.
Viertens möchte ich jeden dieser Tage tauchen in Gebet – in persönliche, vitale, direkte Zwiesprache mit meinem Vater im Himmel. Alleine und mit anderen zusammen. Mit dem Gott, der in Jesus Christus sein Gesicht zeigt. Der die segnet, die in dieser Welt Frieden stiften. Und der selbst da, wo in unserer Welt Krieg und Unheil und Unfrieden herrscht, einen inneren Frieden schenkt, der meinen menschlichen Verstand übersteigt.
Für alle, die Worte suchen
Gott,
Du hast diese Welt noch immer in deiner Hand.
Und mich auch.
In dir bin ich gehalten und getragen.
Du schenkst, dass mein kleines Gebet für den Frieden zählt und meine kleine Hilfe für die Hilflosen auch.
Was auch immer morgen geschehen wird,
Falle dem Unheil in den Arm,
Erbarme dich über die Hilflosen, die Wehrlosen und alle, die Hoffnung brauchen
Schenke Frieden in der Ukraine,
und in meiner Seele auch.
Amen.
Weitere Perspektiven aus christlicher Sicht zum Krieg in der Ukraine, zum Beten und zur praktischen Unterstützung gibt es regelmäßig aktualisiert unter erf.de/ukraine .
[…] Putins Krieg – vier Wege, den Blick zu weiten Ich will mich nicht angstvoll auf das fixieren, was stündlich aktuell im Spotlight gehandelt wird. Hier sind vier Wege, den Blick zu weiten. […]