Menschen aus dem Nichts

Neuronale Netze. Machine Learning. Künstliche Intelligenz. Ich weiß nicht, was ich bemerkenswerter finde: Welche Fortschritte Forschung und Entwicklung in den letzten Jahren auf diesen Gebieten gemacht hat – oder wie unbemerkt „KI“ längst in unseren medialen Alltag vorgedrungen ist.

Dass Computer „denken“ können, dass die Grenzen zwischen Menschen und Maschinen verwischen – das ist schon seit den 80er und 90er  Jahren zunehmend Drehbuchthema für Hollywood. Und wie immer ist es ein untrügliches Zeichen: Was im Science Fiction-Genre mainstreamfähig geworden ist, dem sollten wir als Gesellschaft mehr Aufmerksamkeit widmen. So auch bei der „KI“.

Das Konzept der ersten „neuronalen Netze“ – eine krude mathematische Nachbildung eines menschlichen Denkvorgangs – stammt schon aus dem Jahr 1943 (hier ein Video über die Mathematik hinter dem Konzept). Seitdem haben die zugrundeliegenden Forschungen in Mathematik, die Fortschritte in Hardware und Software rasant Fortschritte gemacht. Natürlich ist der Begriff „Künstliche Intelligenz“ weiterhin irreführend, denn mit „Denken“ oder „Intelligenz“ haben die Fähigkeiten heutiger komplexer Software-Algorithmen nach wie vor wenig zu tun. Eher mit der rasend schnellen Mustererkennung und -modellierung unter Zuhilfenahme großer Datenmengen. Und da mittlerweile immer mehr von dem, was wir Menschen wissen, in digitaler Form verfügbar ist, „lernen“ der Computer heute immer schneller.

Und das, ohne wirklich zu verstehen, was sie da tun.

Schon seit Jahren hat kein menschlicher Schachgroßmeister mehr eine Chance gegen die Software, und vor rund fünf Jahren fegte „AlphaGo“ einen der weltbesten Spieler des schwer berechenbaren Spiels „Go“ unter Turnierbedingungen vom Brett. Der Clou: Niemand hatte der Software beigebracht, wie man „Go“ überhaupt spielt. Der Schlüssel für heutige Fortschritte im Feld der „künstlichen Intelligenz“ ist das „Machine Learning“. Die Idee: Man füttert die Software mit einer riesigen Menge digitalisierter Go-Partien, und die Maschine entwickelt selbstständig Kriterien für erfolgreiche Spielstrategien. Strategien, auf die vielleicht noch nie ein menschlicher Spieler gekommen ist. Wie genau die Software Ursachen und resultierende Handlungen in einem komplexen Geflecht miteinander verbindet, bleibt für Menschen letztlich kaum nachvollziehbar.

Diese Art von „KI“ ist keine Fingerübung von ein paar Computer-Nerds im Labor mehr, sondern längst in unser aller Alltag angekommen. Ihre Fotoverwaltungssoftware auf ihrem Computer sortiert Ihre Sammlung nach den automatisch erkannten Gesichtern Ihrer Familienangehörigen. Ihr Facebook-Stream wird vorgefiltert nach dem Muster Ihrer bekannten Vorlieben und aller Ihrer bisherigen Klicks und Likes. Siri, Alexa oder auf welchen Frauennamen (warum eigentlich immer Frauennamen?) auch immer der Software-Assistent auf Ihrem Mobiltelefon hört, „errät“ Ihre Wünsche auf Basis aller Ihrer bisherigen Interaktionen mit Ihrem Telefon am heutigen Wochentag, am momentanen Ort und um die aktuelle Uhrzeit.

Und jetzt wird’s gespenstisch. Denn längst kann Machine Learning nicht mehr nur Gesichter erkennen, Sprache verstehen oder das Surfverhalten im Internet analysieren. Sondern umgekehrt auch Gesichter herstellen. Gesichter von Menschen, die nie gelebt haben. Die es nie gegeben hat, auf keinem Foto der Welt.

Ein Artikel aus dem Wissenschaftsressort der New York Times beschreibt, wie man mit einer bestimmten Art von neuronalen Netzen, den Generative Adversarial Networks, und einer großen Datenbank an Fotos menschlicher Gesichter einen Software-Algorithmus so füttern kann, dass er nicht nur selbständig und ohne menschlichen Eingriff die Kombinationsmuster von Datenmerkmalen findet, die ein menschliches Gesicht ausmachen. Sondern – einen Schritt weiter gehend – diese Muster auch so kombinieren kann, dass völlig neue Gesichter entstehen. Gesichter von Menschen, die nie gelebt haben. Gesichter von Menschen, die so echt aussehen, dass Sie sie von einem Foto nicht mehr unterscheiden können. Werbetreibende und russische Trollfabriken müssen damit für ihre Hochglanzflyer bzw. gefälschten Social Media-Identitäten nicht länger Bilder von real existierenden Personen zweckentfremden, Fotos von Agenturen einkaufen oder Photoshop bemühen.

Das Foto zu Anfang dieses Artikels  ist von solch einem selbstlernenden Algorithmus entworfen worden. Der abgebildete Mensch hat nie gelebt, und es hat auch kein Künstler, Designer oder Photoshop-Spezialist Hand angelegt.

Glauben Sie nicht? Sie können das selber ausprobieren:

Auf der Website ThisPersonDoesNotExist.com finden Sie das Foto eines Menschen. Bei jedem Aufruf der Website ein neues, anderes. Keiner dieser Menschen hat je existiert. Und keins dieser Bilder wurde von einem Menschen über Photoshop retuschiert. All diese Gesichter sind das Produkt eines Software-Algorithmus, der „gelernt“ hat, wie menschliche Gesichter aussehen können. Und der auf Knopfdruck neue Menschen aus dem Nichts erzeugen kann.

Ich glaube, es ist höchste Zeit, das Thema „Künstliche Intelligenz“ nicht länger den Mathematikern, Software-Entwicklern und Science Fiction-Fans zu überlassen.

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