Wo unser Bild vom Morgen entspringt

 

Die Corona-Krise hat bisherige Gewohnheiten und Sicherheiten unserer Gesellschaft ins Wanken gebracht. Viele Menschen sehnen sich nach Einordnung: Hat Gott die Hand im Spiel? Was wird morgen sein? Als Christ bin ich absolut davon überzeugt, dass aus Gottvertrauen Gewissheiten für die Zukunft erwachsen können.

Aber ich merke auch: Diese positive Sicht auf die Zukunft fällt mir nicht einfach so in den Schoß. Unsere Welt ist kein durch und durch positiver Ort, meine Lebensumstände geben nicht immer Anlass zum Optimismus, und auch ein oberflächlicher Blick auf ein paar Textverse in der Bibel vermittelt mir nicht auf magische Art und Weise krisenfeste Zuversicht. Ich glaube, wir müssen schon etwas tiefer graben, wenn wir bei der Frage nach Gott und der Zukunft tragfähigen Grund finden wollen.

Bei diesem Tiefergraben werde ich mich durch mehrere Schichten hindurcharbeiten: Ich werde mich damit beschäftigen, wo unser Bild von Morgen entspringt und wie es gefärbt wird durch unsere Persönlichkeit und die Zeit und Kultur, in der wir leben. Ich werde einen Blick werfen auf die Veränderungen, die die christliche Zukunftshoffnung im Lauf der Kirchengeschichte erlebt hat. Ich werde thematisieren, wie Zeit und Zukunft im hebräischen Denken gesehen wurden, das die biblischen Überlieferungen geprägt hat. Und nach all diesen Vorarbeiten werde ich die Gewissheiten in den Blick nehmen, die Gott allen, die ihm vertrauen, für die Zukunft in die Hand und ins Herz gibt.

Ich lade Sie ein, mit mir gemeinsam zu graben. Und ich beginne in Frankreich, im 19. Jahrhundert – bei Victor Hugo.

Bis heute ist Victor Hugo einer der berühmtesten französischen Schriftsteller, sozusagen der Goethe Frankreichs. Er schuf so bekannte Werke wie „Der Glöckner von Notre Dame“ oder „Les Miserables“ und verweigerte sich dabei immer wieder der Vereinfachung und Vereinnahmung. Victor Hugo benannte offen die Widersprüchlichkeit seiner Zeit und auch die Widersprüchlichkeit des menschlichen Lebens.

In den Kreis dieser Widersprüchlichkeiten gehört auch die menschliche Vorstellung von der Zukunft. Also die Frage, wie wir die Umstände vor unserem inneren Auge sehen und bewerten, die noch nicht sind. Und ich stelle fest: Wie wir die Zukunft sehen, sagt oft weniger über die Zukunft aus – als über uns selbst. Victor Hugo hat das einmal so formuliert:

„Die Zukunft hat viele Namen: Für Schwache ist sie das Unerreichbare, für die Furchtsamen das Unbekannte, für die Mutigen die Chance.“

Was wir heute über morgen wissen können, das ist also mindestens gefärbt, vielleicht sogar gefüllt mit dem, wie wir uns selbst und unsere Welt heute sehen. Als Menschen können wir auch gar nicht anders, denn wir erleben unsere Gegenwart mit allen Sinnen, aber unsere Zukunft können wir erst einmal nur denken. Kein Wunder, dass das, was wir „Zukunft“ nennen, für uns zunächst als inneres Bild, als „mentales Modell“ in unserem Kopf beginnt.

Mir ist das zum Beispiel in Gesprächen begegnet, in denen mich Menschen um einen Rat für eine anstehende Entscheidung gebeten haben. Zum Beispiel bei der Wahl eines Studienfachs oder vor einem möglichen Jobwechsel. Ganz vereinfacht sind mir in solchen Gesprächen zwei gegensätzliche Persönlichkeitstypen begegnet, mit zwei gegensätzlichen inneren Bildern von der Zukunft. Ich nenne sie die „Grüne Wiese-Typen“ und die „Minenfeld“-Typen.

Die „Grüne Wiese“-Typen sind die Optimisten. Ihr inneres Bild von der Zukunft ist wie das von einer offenen, weitläufigen, grünen Wiese. Sie empfinden beim Gedanken an das Morgen eine große innere Freiheit, fast alles ist möglich. Die Frage, auf die die „Grüne Wiese“-Typen mit Blick auf die Zukunft eine Antwort suchen, lautet „Wie treffe ich die optimale Entscheidung?“

Für die „Minenfeld“-Typen stellt sich die Zukunft ganz anders dar. Ihr inneres Bild vom Morgen ist das von einem Minenfeld: Überall könnten Gefahren lauern; ein falscher Tritt und alles gerät außer Kontrolle. Die „Minenfeld“-Typen sind die Pessimisten; ihre Hauptfrage mit Blick auf die Zukunft lautet „Wie mache ich möglichst keinen Fehler?“

„Grüne Wiese“ oder „Minenfeld“ – es sind diese inneren Bilder in unserem Kopf, diese mentalen Modelle über die Zukunft, die unser Denken und Handeln prägen. Zum Beispiel in der ganz praktischen Frage, ob ich mein Geld eher investiere, um mir künftig neue Möglichkeiten zu erschließen – oder ob ich mein Geld lieber beisammenhalte, um für unvorhergesehene Krisen gewappnet zu sein.

Aber nicht nur als Einzelne tragen wir ein inneres Bild von der Zukunft in uns – auch als Gemeinschaft, als Gesellschaft, als Kultur teilen wir mentale Modelle von dem, was morgen sein wird. Man kann das gut zeigen an einem Literatur- und Filmegenre, das mich persönlich schon immer fasziniert hat: Science Fiction.

Die ersten klassischen Science Fiction-Erzählungen waren vom Zeitalter der Entdeckungen und Erfindungen geprägt. Ich denke an Jules Verne und an „Zwanzigtausend Meilen unter dem Meer“. An „Die Reise zum Mittelpunkt der Erde“ oder „Reise um die Erde in 80 Tagen“. In Jules Vernes Romanen liegt die Zukunft offen für den Helden, der wagemutig genug ist, sie zu entdecken.

Mit der fortschreitenden Industrialisierung und der Erfahrung totalitärer Ideologien zu Beginn des 20. Jahrhunderts wandelt sich das Bild von der Zukunft, wie es von Science Fiction-Autoren gezeichnet wird. Aldous Huxley beschreibt voll bitterer Ironie eine „Schöne neue Welt“ und George Orwell warnt mit „1984“ vor einer totalitären Gesellschaft, die jeden Gedanken an eine bessere Zukunft im Keim zu ersticken versucht.

Nach dem zweiten Weltkrieg wird das mentale Modell von der Zukunft im Science Fiction-Genre wieder positiver. Es sind die Jahre des Wettlaufs zum Mond, des technischen Fortschritts und zunehmenden Wohlstands. Serien und Kinofilme wie „Raumschiff Enterprise“ prägen eine ganze Generation. Zukunft ist in dieser Zeit so etwas ist ein dauerhaft anhaltender Fortschritt.

Schaut man schließlich auf heutige Science Fiction-Bücher und -filme, begegnet einem wieder eine eher düstere Vision der Zukunft. Gentechnik, künstliche Intelligenz, Klimawandel oder gesellschaftlicher Zerfall sind die Motive – und wie ihre Vorgänger in der Geschichte des Science-Fiction haben auch diese Motive vermutlich weniger Vorhersagekraft für die Zukunft, als dass sie unsere Ängste und Sorgen der Gegenwart widerspiegeln.

Die Zukunft ist also zunächst einmal ein mentales Modell von dem, was morgen sein wird. Es ist gefärbt von meiner Persönlichkeit, meinem Erleben im Heute und von der Kultur und Gesellschaft, in der ich lebe. Und jetzt wird es spannend, denn auch das Bild, das sich Christen von der Zukunft Gottes machen, ist wohl nicht frei von solchen Färbungen. Das zeigt uns ein Blick in die Kirchengeschichte. Also – graben wir zusammen noch ein Stück tiefer!

 

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